Bedürfnisse II

Die natürlichen Wesen, sagen wir mal: den Menschen miteingeschlossen, als bedürftige Wesen zu sehen, mag eine Ethik der Fürsorge nahelegen. Manchmal beobachte ich junge, bereits flügge Jungvögel, wie sie ihre Eltern immer noch um Futter anbetteln – und sich diese dann, gleichsam unwirsch, von ihrem offensichtlich bequemen Nachwuchs abwenden. Die Beobachtung öffnet den Blick auf die der Bedürftigkeit gegenüberliegende Seite.

In bestimmten Grenzen ist Fürsorge gut und wichtig, aber darauf gleich eine (maternalistische oder paternalistische) totale Fürsorgeethik zu bauen, ist übertrieben, denn es gibt ja eben auch die andere Seite: nämlich die, dass natürliche Wesen, mutatis mutandis  der Mensch miteingeschlossen, frei, unabhängig, autonom sein möchten und unter Umständen bereit sind, sehr viel zu opfern, um ihre Freiheit, Unabhängigkeit, Autonomie zu bewahren, und gar keine Lust zeigen, sich zum Objekt irgendwelcher entmündigender Befürsorgungstätigkeiten machen zu lassen.

Mir scheint, dass die Problematik über das Natürliche hinaus eine stark normative-politische Dimension hat, wenn es darum geht, wo die Grenzen eines (potentiell ausufernden?) Fürsorge-Staates sind – und wo seine Pflicht beginnt, die Freiheit und Autonomie des Einzelnen unangetastet zu lassen. Und diese Grenze richtig zu setzen, wäre ein hohes ethisches Gut.

Tagebuch vom 14.01.22

2 Kommentare zu „Bedürfnisse II“

  1. Ein unübertreffliches Lob auf Pflicht, Autonomie und Freiheit. Schön, dass wenigstens ein Schriftsteller in dürftiger Zeit diese drei göttlichen Worte nicht vergessen hat. Dies gereicht ihm zu Ehre und Ruhm. Wer aber könnte auf die Idee kommen, diese unübertrefflich tiefsinnige Weisheit in Frage zu stellen?
    Unsere verkommene Zeit verkennt, dass es in einem Staat für zu dessen Fortkommen ein grosses Bedürfnis nach Menschen mit Pflichtgefühl, mit einem Autonomie- und einem Freiheitsbedürfnis gibt. Und klagen nicht viele, dass
    ihr Bedürfnis nach Freiheit und Autonomie geringgeschätzt wird?
    Es ist doch so, dass – wie ein berühmter Philosoph aus dem 19. Jahrhundert, dessen Namen ich im Moment vergessen hat, schreibt, dass in einer wachsenden Gesellschaft auch die Bedürfnisse wachsen. Er nennt die Struktur ihrer Befriedigung „Sittlichkeit“. Auch ein Wort, dass nicht vergessen werden sollte.

    1. Lieber Peter
      Ich möchte mich auf deinen spöttischen Kommentar hin etwas genauer erklären:
      Im Gegensatz zu den «nicht-menschlichen Tieren» (C. Korsgaard) sind wir unseren Bedürfnissen nicht notwendig ausgeliefert. Wir können uns ihnen gegenüber verhalten. Wenn mich die Frage in diesem Zusammenhang beschäftigt, dann so:
      Gibt es nicht Bedürfnisse, die in der Angst gründen, genauer: in der Angst vor dem Tod als einem bisher nicht zu eliminierenden Moment unserer eigenen Natur. Das daraus entspringende Bedürfnis ist – das ungeheure Anstrengungen auslösende – Bedürfnis nach möglichst unbegrenzter Beherrschung der Natur. Daraus abgeleitet Bedürfnisse nach möglichst perfekter Gesundheit und umfassender Sicherheit. Meine Frage ist, ob diese trinitäre Bedürfniskonstellation «Beherrschung der Natur“ – „optimale Gesundheit als Lebensaufgabe“ – „möglichst umfassende Sicherheit» bei uns (?) nicht hypertrophe Formen aufweist. Man muss wahrscheinlich in einem der am meisten fortgeschrittenen Länder leben, damit sich einem diese Frage aufdrängt.
      Natürlich hast du Recht: Das ist alles kalter Kaffee. Aber das beschäftigt mich nun mal. Dies weniger als «Schriftsteller in dürftiger Zeit», sondern als Eremit in stiller Klause am Rande des globalen Netzes. Als solcher erlaubt sich Per Meerin, sich ins Ungewisse hinaus zu äussern. Es muss es ja 1. niemand zur Kenntnis nehmen und 2. gibt es weit schlimmere Formen der Umweltverschmutzung.

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