Romane

Stockers Stimme

Editorische Vorbemerkung:


Es ist acht Jahre her, seit Armand Stocker zum Mitverbündeten und Mithüter unseres stillen, scheinbar wirkungslosen Bunds der Gelben geworden ist. In seiner Erweckungsgeschichte haben wir ein Dokument aus der Frühzeit der damals noch allseits verunglimpften Gelben vor uns. Auch wenn diese seither bekanntlich einen beachtlichen Zuwachs an Sympathisantinnen und Mitverbündeten verzeichnet, ist der Bund in unserem Tal eine Erscheinung an der Peripherie geblieben. Nach wie vor gilt: Wer in Drax zu den Gelben findet, hat einen gewundenen und in der Regel enttäuschungsreichen Weg hinter sich. Als Gelbe wird man nicht geboren, zur Gelben wird man durch Erfahrung. Zur Gelben wird man, indem man eine Schwelle überschreitet, eine Schwelle der Wandlung, die in Drax’ rasender Gegenwart nicht vorgesehen ist.
Von diesem schwierigen Schwellenübertritt erzählt Armand Stockers Erweckungsgeschichte für alle, die wie er jahrelang ins Stocken geraten sind und weder ein noch aus wussten, bevor sie durchgebrochen sind oder daran sind durchzubrechen. Aber auf ganz andere Weise durchbrechen, als es die zukunftshungrigen Fortschritts- und Weltrettungs-Ideologen von Drax propagieren, durchbrechen in die Dimension eines uralten, menschenmöglichen, aber in Drax systematisch verschütteten Bewusstseins der Mitte. Wir Gelben wollen nicht nach vorn, wir suchen nicht die Ermächtigung in Richtung einer irgendwie vorgezeichneten Zukunft, aber auch nicht zurück in die Steinzeit, wie man uns zynisch nachsagt, sondern in die helle Mitte einer Gegenwart, in der „die kommunikative Gemeinschaft mit allem Gegebenen auf heilsame Art möglich ist“ (Leo Ganz). Dazu müssen wir nicht die Welt verändern, sondern, was viel viel schwieriger ist: uns selber.
Allen, die nicht mehr daran zu glauben mögen, dass es fortan noch immer darauf ankomme, die Welt richtig umzupflügen, und wir diesbezüglich erst am Anfang stünden, und dass es jetzt, in letzter Minute, erst recht darauf ankomme, alle Kräfte zu mobilisieren, dass es gar keinen anderen Weg gebe, wenn man nicht auf den Weltuntergang zurasen wolle, und allen, die längst daran zweifeln, dass die sich abzeichnende Katastrophe sich nur vermeiden lasse, wenn man im Wettbewerb der globalen Ausbeutung und bei der Entwicklung ihrer technologischen Werkzeuge ganz vorne mit dabei sei, und allen, die erschrocken die Schrift in der Natur lesen, dieses Menetekel, ist vielleicht Armand Stockers Erweckungsgeschichte ein nicht ganz wertloses Gleichnis für die eigene Situation.

Aruna Skaliskaite
Mentorin der Gelben im Zentrum von Drax

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  1. Werner Neck zu Romane

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1 Kommentar zu „Romane“

  1. Zu Stockers Stimme
    Er ist noch einmal davongekommen. Armand Stocker, der sich mit Drax nicht anfreunden will, mit einem Unternehmen, das die gewachsene Talschaft vollständig umbaut. Mit der Logik von Fortschritt und Perfektion, die einem totalitären Drall erliegt.
    Siebzehn Jahre ist es her, seit Armands Freund und Blutsbruder Soroczy, mit dem er das «Indianerland» durchstreift hat, spurlos verschwunden ist. Der Verdacht liegt nah, dass dieses Verschwinden nicht gewaltfrei erfolgte. Seither kreisen Stockers Gedanken um das Ereignis, zwischen üblen Ahnungen und einer Sehnsucht nach dem alten, unberührten Leben hin- und hergerissen. Auch zwischen der Angst vor Schnorf und dessen Gehilfen, die sich Drax verschrieben haben, und Erinnerungen an eine Freundschaft, die ihm Kraft und Eigenleben brachte.
    Wenn Drax durch demokratischen Beschluss im Tal eingeführt wurde, so entwickeln seine Maschinen eine Dynamik, welche die Leute in ihren Bann zieht, alle Lebensbereiche erfasst und nichts mehr duldet, was sich dem Heilsversprechen nicht fügt. So wird denn Stocker von Schnorf zum Tolgg gestempelt, zum Nichts, zum hoffnungslos Rückständigen. Eine Hatz beginnt im Namen eines von Slogans getriebenen Fortschritts, aus der Armand keinen Ausweg mehr sieht. Eine schrille Geschichte, so der erste Eindruck, mit Elementen, die ich schlecht einordnen kann.
    Beim zweiten, langsamen Lesen klingen die reicheren Untertöne an: Stimmen aus der Tiefe, die wie ein griechischer Chor die Erzählung begleiten. Stockers Stimme, dem bis zum Wiedereingliederungsprogramm sieben Nächte bleiben, um Mummelleuten die finstere Geschichte zu erzählen, von der er sich zu erholen sucht. Worte eines Zerschlagenen. Die Poesie einer eigenwilligen Prosa kündet sich an: «Ich, Grenzgänger entlang der Schamlinie, / Veteran auf den Schmuggelpfaden des Entsetzens, / konvertierter Indianer…»
    Da spricht ein Getroffener aus einer anderen Welt. Spricht von Scham, die es nicht mehr zu geben scheint. Dass das Leben im Fortschrittswahn nicht besser gelingt als zuvor. Und von der Zauneidechse, einem Talisman, worum ein Streit entbrennt, als ob der materielle Besitz garantierte, was in Gedanken längst erloschen ist. Zwischen der penetranten, rasend sich entwickelnden Gegenwart verstreut die Klänge einer stilleren Vielfalt.
    Ich mag das Buch und geniesse es nach der zweiten Lektüre, darin zu blättern, um da und dort nach Perlen zu tauchen.
    Werner Neck, 30.10.2023

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