Werkstatt/Schreibstatt

Per Meerin, Eremit

Beim Schreiben verwandelt sich P.M in einen Eremiten. Er sitzt mitten in der brausenden Stadt, wo er zusammen mit seinem blauen Hasen abgeschieden und ziemlich unberührt von den Moden der Menschen lebt. Nicht, dass ihn die Menschen nicht interessierten, er ist ja selbst einer. Aber noch mehr als die Menschen interessieren ihn die Gehäuse, die konstruiert werden, um sich vor unliebsamen Zufällen und den Unwägbarkeiten der Natur zu schützen. Dabei sind diese Gehäuse ja nicht nur materieller, sondern ebensosehr geistiger Art. Doch während die materiellen bei aller Ausgetüfteltheit noch etwas tröstlich Handfestes haben, sind die geistigen aufgrund ihrer glasartigen Transparenz verzweifelt leicht zu übersehen. Im Laufe seines Eremitenlebens und -schreibens ist P.M. da auf ein Gebilde gestossen, das in seinen Ausmassen alles andere ziemlich nichtig erscheinen lässt. Es ist eine Art Hyper-Glas-Kathedrale, die mit ihrer exorbitanten Höhe und Tiefe und ihrem globalen Umfang und Volumen selbst die grössten Gebäude der materiellen Welt, also alle die gewaltigen Flughafenterminals, Konsum-, Konferenz- und Bürokomplexe samt integrierten Fünf-Stern-Hotels, IMAX-Kinos und Freizeitparadiesen wie Schattentheater oder Fata Morganas aussehen lässt. Es ist zu vermuten, dass es sich um das grösste Gebilde überhaupt handelt, das sich Menschen je geschaffen haben. Es ist so gross und allumfassend, dass P.M. es wahrscheinlich ohne das Sensorium seines blauen Hasen überhaupt nicht entdeckt hätte, denn was so gewaltig ist, dass es immer nur Hintergrund für alles andere bildet, wird leicht übersehen. Nun aber, da der blaue Hase nicht von seiner Seite weicht, muss sich P.M., ziemlich unberührt von den Menschen und Moden um ihn herum, eine Eremitage des Glücks am Fusse des himmelstürmenden Ungetüms erschreiben. Aber – unter uns gesagt – wie soll das denn gelingen bei den Immissionen, denen er in seiner eremitischen Schreibstatt wegen der unausweichlichen Nähe des Ungetüms doch ausgesetzt ist? Diesem lautlosen babylonischen Brausen Tag und Nacht!


Fünf leichtfertige Thesen

  1. Moderne Kunst tendiert im Gleichschritt mit dem totalen Materialismus zur Materialität – und damit tendenziell zur Bedeutungslosigkeit.
  2. Bedeutungslosigkeit ist nicht dasselbe wie Sinnlosigkeit, denn auch Bedeutungsloses kann im Kontext seines Erscheinens Sinn haben.
  3. Kunst, die sich auf die Materialität zurückzieht, ist systemkonforme Kunst. Kunst hat aber die Aufgabe, das jeweils herrschende System zu transzendieren.
  4. Gegenwärtig muss die Kunst deshalb radikal auf den Geist setzen.
  5. Kunst, die auf den Geist setzt, ist zwar bedeutungsvoll, aber eventuell sinnlos, weil nichts damit anzufangen ist.

Ein Projekt

Dieses Jahr 12 Gedichte schreiben. Johannes und Renate haben mir zum neuen Jahr ein „Stellarium“ geschenkt, ein wunderschön gestaltetes Notizbuch, in dem jeder Monat dieses Jahres unter der Regentschaft eines Sternbildes steht. Der Januar unter dem Sternbild des Schwans; der Februar unter dem Sternbild des Hasen; der März unter dem des Grossen Hundes etc. Aus den Lichtpunkten jedes Sternbilds am nächtlich klaren Himmel ein Gedicht ablesen, versöhnliche Wort-Kon-stella-tionen (lat. stella = Stern), als Kontrapunkte zum manichäisch zerrissenen Ideologie-Schlachtfeld – ich möchte sagen: hienieden.

So dem „Stellarium“ einen passenden Inhalt geben.

„Jede wahre Kunst ist geistig, welchen Gegenstand sie auch darstellen mag.“ (P. Mondrian)

Poesie

Poesie besteht darin, die Sprache aus dem Gefängnis zu befreien.

Reflexion

bald steigt die freude
treibt aus und spriesst in die welt
bald fällt sie und zerschellt
auf steinernem grund
so ereignet sich das Ganze

Freude nicht psychologisch, als individueller Gefühlszustand, sondern als „Ereignen des Ganzen“. Bald steigt sie, bald fällt sie, je nachdem wie das Ganze sich ent-wickelt. Das Ganze ist auch das Gedichtchen selbst in seiner zuerst steigenden (V 1+2) und dann fallenden Bewegung (V 3+4). V 5 besteht in einem interpretierenden Kommentar zum Vorangegangenen. Das Ganze ist das, woraus alles geschieht. Das gilt in gewissem Sinn auch für das Gedicht selbst, aber in ihm spiegelt sich das Ganze nicht rein, dazu ist es viel zu stark kontaminiert durch meine mangelnden sprachlichen Fähigkeiten und letztlich auch durch die Tatsache, dass wir notwendig eine soziale Sprache verwenden, meistens verwenden als Werkzeug zur Bewältigung unseres Alltags. (Viele behaupten, Sprache sei nie mehr als das.)

Von was für einer „freude“ ist die Rede? Als Autor weiss ich es nicht. Als Leser (meines Gedichts) kann ich mir eine Antwort vielleicht zurechtlegen. Die „freude“ zeigt einen doppelten Charakter. Einerseits ist sie voll vitaler Kraft; wie eine Pflanze treibt sie aus und spriesst in die Welt; anderseits ist sie ganz der physikalischen Schwerkraft unterworfen, die sie zu Fall bringt und zerstört. Ich lese die „freude“ als Bezeichnung für das Wunder der Lebenskraft, die gegen das eherne Gesetz der Gravitation, der alle körperliche Masse unterliegt, in die Höhe steigt, austreibt und spriesst, bis sie verbraucht ist und dann – wieder bloss physikalischer Körper – der universalen Schwerkraft widerstandslos ausgeliefert ist und „fällt“ und „zerschellt“.

Poetologisch gewendet möchte ich glauben: Es gibt so etwas wie einen poetischen Elan, der das Gedicht vorwärtstreibt, aber auch den Widerstand durch eine Sprache, die der Macht der Konvention unterworfen ist. Das Gedicht ist das Ganze.

Veränderung

„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.“ Karl Marx

„In den letzten 200 Jahren wurde die Welt nur verändert, es kömmt jetzt drauf an, sie anders zu interpretieren.“ P.M.

Innenwelt – Aussenwelt

Ich bin ein Mensch mit vielen sozialen Beziehungen, die ich meistens sehr geniesse und die mir auch sehr viel geben; im normalen Sinn des Wortes bin ich also alles andere als ein Einzelgänger, aber sobald ich mich zum Schreiben hinsetze, bin ich der Einsiedler in der Wüste, der Wüstenbewohner: der Eremit. Angefangen habe ich damit in meinem achtzehnten Lebensjahr, 1969. Da ist etwas geschehen, das das Haus meiner Kindheit in die Luft gesprengt hat. Ich könnte schreiben, seither begleite es mich das Schreiben, aber das ist nicht richtig, zutreffender wäre es zu sagen: Seither begleite ich das Schreiben, es entfaltet sich langsam, sehr sehr langsam, aber mit einer zähen
Eigendynamik, so vielleicht wie ein Baum in Wüste wächst, unter widrigsten Umständen, Phasen der lebensfeindlichsten Hitze und jahrelanger Trockenheit überdauernd, seine Wurzeln tiefer und tiefer in den Sand hinuntergrabend, um der lebenspendenden Feuchtigkeit näher zu kommen. Ein romantisch verklärender Mythos, der sich dekonstruieren lässt, z.B. in psychologischer Sprache: Ein Kind, das sich von seinen Eltern zu wenig geliebt und anerkannt fühlt, rettet sich, damit es seelisch überleben kann, in einen von aussen unzugänglichen Innenraum, in dem es ganz sich selber sein und die Lieblosigkeit der Aussenwelt kompensieren kann. Später, in der Adoleszenz, erhält dieser Innenraum einen Ort in der Aussenwelt: das Tagebuch, in den ersten Jahren noch in einer privaten Geheimschrift verfasst, damit sich ja kein Unberechtigter zu seinem Inhalt Zutritt verschaffen konnte. Inzwischen gibt es mehr als 60 dieser Tagebücher – tausende Seiten inkarnierter Innenwelt, das Werk niemals abreissender Schreiberei. Aber dieser wohnt fast von Anfang an ein seltsame Tendenz inne, man könnte sagen, eine dialektische Tendenz, nämlich die Tendenz nicht nur Aussenwelt der Innenwelt zu sein, sondern auch Innenwelt der Aussenwelt. – Innenwelt, Aussenwelt? Die Innenwelt, das ist die Welt der Gefühle und Gedanken, die Welt des Bewusstseins in die Tiefe, bis wo die dunkeln Bilder leuchten, und in die Höhe, wo die Begriffe sich in reines Licht auflösen – und dazwischen, breit und mächtig: das Bewusstseins der vernetzten, zunehmend globalen Mitte, wo wir alle unter Regeln zusammenhängen. – Und dann die Aussenwelt, das ist die Wirklichkeit, wie sie die Wissenschaften in Form von Fakten und Zahlen liefern, die Physik, die Chemie, die Biologie allen voran und dann die Welt der künstlichen und natürlichen Maschinen samt der sie steuernden Algorithmen, d.h. alles, was ist, nur objektiv betrachtet, abstrahiert vom alles schaffenden Geist.
Mir scheint, der Niemandsort, den der Eremit schreibend sucht, ist vielleicht der Ort, in dem Innen- und Aussenwelt ineinander verschmelzend auseinanderbrechen. (12.04.22)

1 Kommentar zu „Werkstatt“

  1. Sehr anregend, deine Thesen!
    Sie würden meinem Künstlerfreund gefallen (was kein Argument ist, lediglich eine Festellung), der sich ganz auf das Transzendierende im christlichen Sinne kapriziert (oder konzentriert). Damit stellt sich mir die Frage, was den das Transzendierende heute noch (?) sein könnte.
    Ich denke, Materialität heisst heute auch und besonders Virtualität, also eine komplette Entfremdung von der Dinghaftigkeit, insbesondere auch von der Materialität des Virtuellen (wer weiss schon, in welchen Sklavenfirmen der Elektroschrott unserer Zeit hergestellt wird, wie viel Energie in Kaltgängen der Serverracks verbraucht wird). Die ‚shifting baseline‘, um diesen ökologischen Begriff zu verwenden, bewegt sich heute auf den Horizont eines umfassenden virtuellen Konsumrausches zu. Ein ‚draussen‘ (im Sinne unserer Kindheit, „ich geh noch raus bis zum Abendessen!“) gibt es in unseren Breiten nur noch in den Flüchtlingslagern auf Lesbos oder bei den zig nomadisierenden Flüchtlingen in Bosnien. Ihr ‚draussen‘ spielt sich in Gewerbegebieten und zwischen Tankstellen ab, den Unorten des Globalen Nordens. Kulissennatur bleibt den Wohlhabenden vorbehalten: in ihren Ressorts im Engadin oder an den Fjorden Norwegens.
    Man könnte nun auch deine 3. These konträr lesen: Kunst, die sich auf Materialität einlässt, schafft es (bestenfalls) unsere Seins- und Dingvergessenheit zu benennen (ein geistig-materieller Akt sicherlich). In diesem Aufzeigen transzendiert sie die Immanenz des immer-schon-Vorausgesetzten, nämlich die Bereitstellung von Material zu unserer Verfügung (den Materialdurchschuss unserer Lebensform, samt Entropie). Sie pocht auf das Eigenrecht, auf das Partikuläre am Ding, das in schlechter Abstraktion je schon subsumiert wird. Man kann diese Kunsthaltung natürlich auch Geist nennen oder das Aufdecken des Zeugcharakters. Transzendenz wäre dann hergestellt durch Verfremdung (im Brechtschen Sinne vielleicht): zumeist und zunächst scheint alles reibungslos zu funktionieren, doch dann kommt es zu einer artistischen Intervention. Sie wirft uns auf uns selbst zurück, transzendiert die Alltagsimmanenz des Man.
    So könnte man eventuell auch ansetzen!
    Sebastian

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