Kurzgeschichten

Blautauben oder das Gute Wahre Schöne (in „Fesseln. Zwanzig kurze Erzählungen“)

Am liebsten wäre ich sowieso zu Hause geblieben; zu Hause weiss man, was man hat. Aber meine Frau, die Dani, ist ein Hibbel, die hält es daheim nicht aus.  So waren wir letztes Jahr in London, vorletztes in Moskau, davor in Rom. Schon am Neujahrstag verkündige sie nach dem Mittagessen: „Dieses Joahr hädd i Luschd uf was Friedliches, Karle. Diese hekdische Grossschdädde. Vo Erholung koi Schbur!» (Dani auf Hochdeutsch? Pardon, das geht nicht.) Um Schlimmeres zu verhindern, schlug ich ihr sofort vor: „Wie wär‘s mit Zürich?“ – Zu meiner Überraschung war sie Feuer und Flamme: „Karle», meinte sie, «des hodd Hand ond Fuass! In Baris der Eiffl, in Moskau der Rode Bladz, in Rom der Bederschbladz und in Zürich die Blaudauba.»

Man kennt ja die Bilder: die Zwillingstürme des Grossmünsters, umflattert von Blautauben; der dicke Niki-Saint-Phalle-Engel im Gegenlicht der Züricher Hauptbahnhofhalle inmitten eines Blautaubenschwarms; der Denkmal-Pestalozzi mit zierlichen Blautauben auf dem Kopf vor dem traditionsreichen Warenhaus Globus an der Bahnhofstrasse oder dann, geradezu symptomatisch für den liberalen Geist dieser Stadt, die mit Halmen, Federn, Papier- und Kunststofffetzen zusammen-gestoppelten Taubennester auf den Fenstersimsen des Züricher Rathauses an der Limmat – die Bilder sind bekannt und billig zu haben; es sind die gleichen in allen Städtereisekatalogen – „Dees muass mr live gseha han, Karle!“ …

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3 Kommentare zu „Kurzgeschichten“

  1. Lieber Andreas
    Etliche Deiner Erzählungen in den Fesseln wecken Erinnerungen an die Schreibwerkstatt. Eine allerdings steht ausserhalb, und sie hat es mir besonders angetan: Tante Gosia’s Hunde. Sie handelt entlang einer Thematik, die mich schon in Purnuškés fasziniert hat, in jenem weiten Raum, wo die jüngere Geschichte den Menschen besonders übel mitgespielt hat. Und sie ist hervorragend erzählt, erinnert an Keller’sche Erzählkunst, wenn sie mit wenigen Andeutungen einen grossen, aber auch bedrückenden geschichtlichen Hintergrund einholt. So wird sie für mich zu einer Art Gravitationszentrum des Erzählbandes, von Texten, die das Leben mit einem Auge für die oft genug abstrusen und skurrilen Züge des Alltags unter die Lupe nehmen. Gegenüber der Tante nehmen sich die Blautauben doch eher alltäglich aus. Aber darum geht es wohl gerade. Auch hier, im «liberalen» Zürich, gibt es geschichtliche Spuren, weit mehr als die Erwähnung von Lydia Eschers unglücklichem Schicksal. Wenn auch Denkmäler und historische Stätten überall darauf hinweisen, und obwohl diese die Routen touristischer Exkursionen markieren, scheint es geradezu symptomatisch, dass der Blick, gefesselt von den so typischen Blautauben, hartnäckig daran vorbeizielt. Geschichte, die lebendige Grundlage unseres aktuellen Lebens, existiert neben dem Bedürfnis nach schönen Bildern und Eindrücken nicht. Und wenn die Episode von der Ratte und der Blautaube die Ambivalenz der Natur schildert, ihre Grossartigkeit und zugleich Darwin’sche Brutalität, wenden sich die Zeugen des kleinen Vorfalls nur angewidert ab und scheinen zu vergessen, dass erst die Kultur, und dass wir sie pflegen, ein einigermassen würdiges Leben ermöglicht. Na ja, immerhin hat auch Freud es verpasst, einen anderen grossen Essai zu schreiben, Das Unbehagen in der Natur – wie soll man die fehlende Aufmerksamkeit gewöhnlich Sterblicher übelnehmen? Einsam sind sie irgendwie alle, die Hauptfiguren, unfrei, obwohl sie von keiner Partei, keinem despotischen Regime unterdrückt werden. Vielmehr sind es die eigenen Fesseln, die sie einschränken; ein schwieriges Verhältnis zur eigenen Natur, die wie ein Wurm im (Sünden)- Apfel bohrt. Oder das ungelöste Verhältnis zur Familie, oder unbewältigte Begegnungen. Müssten wir uns deshalb alle einer Psychotherapie unterziehen? De Tocqueville hat nach einer Reise zur Erkundung der jungen USA behauptet, ein Resultat der Demokratie sei, dass alle Menschen ihre Aufmerksamkeit vermehrt auf sich selbst richteten. Drehen um sich selbst, statt zu versuchen, sich aus der Enge der eigenen Existenz zu befreien und sich auf Fragen konzentrieren, die das Leben ins rechte Verhältnis rücken könnten. Es gibt so viel zu entdecken. Aber um dafür frei zu sein, müssten wir wohl klarer sehen, woher wir kommen. Zweihundert Jahre ideologischen und imperialistischen Wahnsinns prägen Europas Geschichte neben allem alltäglichen Wahnsinn, der uns so oft an den wichtigen Dingen des Lebens vorbeischauen lässt. Daher spricht wohl nicht allein die durch Medien und alltägliche Hektik verkürzte Aufmerksamkeitsspanne für kleine Erzählformen, Formen, die einen Sinn für Humor und die Grösse von Details entwickeln, statt sich in grossen Entwürfen zu verheddern, die nicht mit den Überraschungen des Lebens rechnen. Und so wecken Deine Geschichten bestimmt noch viele Gedanken, wenn sie auch mit einem Problem behaftet sind, das wohl alle Autoren beunruhigt: Sie können noch so viele zündende Ideen und glänzende Passagen enthalten, wann das Feuerwerk beim Leser tatsächlich losgeht, bleibt ein Geheimnis. Mir jedenfalls gefallen sie; der Humor, die vielen schönen Einzelheiten, die Doppelbödigkeit der Wortwahl, wenn gewisse unumgängliche Personen auftauchen, oder die sperrige, langsame Ausdrucksweise derer da draussen, die Kehrtwenden jeglicher Art sehr unwahrscheinlich erscheinen lässt. Bestimmt gibt es zu diesen Geschichten noch vieles zu sagen, vielleicht auch bald wieder einmal im direkten Gespräch.
    2021-03, Werni

  2. „Fesseln“: Kommentar zu einigen Geschichten:
    1. Blautauben oder das Schöne Gute Wahre
    Dieser Text hat mich vom Aufbau her sehr angesprochen – der Spannungsbogen ist bis zum Schluss durchgezogen. Der Handlungsort Zürich ist gut genutzt. Als Kennerin der Stadt sind mir die gewählten Orte vertraut und dennoch hast du auch Erfundenes hinzugefügt; eine gewagte Mischung. Die Idee der Taubensafaris ist genial. Das Verhalten drei Hauptfiguren (Ehepaar und Guide) bringt das passende Konfliktpotential. Dieses ist zum einen wieder realistisch beschrieben, zum anderen auch überzeichnet. Der Fremdenführers ist eine echt skurrile Person – so selbstverliebt, dadurch wird er fast wieder sympathisch . Das ältere sich ewig streitende Ehepaar sieht man durch die gut eingefangenen Dialoge bildlich vor sich. Die zickige Frauenfigur und der leidende Ehepartner; in einer Art Opferrolle halten den Spannungsbogen .

    2. Das Gedicht
    Das Gedicht von Tomas Tranströmer spricht mich als Stimmungsbild sehr an und dieses Bild scheinst du für mich in deinem kurzen Text in Worte zu fassen. Für mich eine mögliche Gedichtinterpretation.

    3. Zahnwahn
    Alles ist nur Wahn, Einbildung, Phantasie, Halluzination, giftiges Nachtschattengewächs, Traum (Gedichtzeile). Der Protagonist der Erzählung ist doch nachts kein Werwolf oder doch? In wenigen Worten gelingt es dir diesen Wahn einzufangen. Der Text spricht mich sehr an. Das Zitat aus Eichendorfs Gedicht „Nachts“ (letzter Satz) könnte für mich auch am Schluss deines Textes stehen oder nochmals aufgegriffen werden, als der Protagonist in die Nacht aufbricht.

    4. Wir hier draussen
    Ein sehr ergreifender Monolog einer besorgten Mutter. Ihr Tochter Nivi muss Schreckliches erlebt haben – du belässt es bei Andeutungen, es muss nicht alles ausgesprochen werden. Auch die Sprache passt wunderbar zur Erzählerin (meist kurze Sätze und viele Gedankensprünge). Indirekt ist es auch eine sehr gelungene Naturbeschreibung des hohen Nordens. Die Einsamkeit, Sprachlosigkeit und Trauer der gewählten Figuren kriecht unter die Haut.

    5. Yamaha
    Eine schrecklich gruslige Geschichte – hat mich irgendwie an Bram Stocker „Die Eiserne Jungfrau“ erinnert. Vom Inhalt her etwas ganz anderes, aber als Gruselgeschichte vergleichbar.

  3. Lieber Andreas,

    schwierig ist es zu Per Meerin einen Kommentar zu verfassen. Erst muss man sich registrieren und dann einen Schlüssel
    eingeben und wehe, der ist falsch: Man hat nur noch zwei Versuche ins Paradies des Kommentars zu gelangen. Dabei
    wissen nur eingefleischte Per Meerin Liebhaber, dass sich auf der Website nur der Anfang der Kurzgeschichten findet
    und man das Buch kaufen sollte, um das Ganze zu lesen.

    Doch angesichts der Tatsache, dass die Schamanen daran sind, das Kapitol in Washington zu erobern und der erste
    Vertreter sich dort bereits triumphierend gezeigt hat, ist das von eher sekundärer Bedeutung. Dank der Freundlich-
    keit eines Postboten konnte ich nun alle zwanzig Meerin-Geschichten lesen. Gut gefallen haben mir die Geschichten
    Cacciatora und Fox, allerdings habe ich mich immer gefragt, was der Titel „Fesseln“ beinhaltet, bis ich die vierte
    Umschlagseite las, die eine befriedigende Erklärung liefert.

    Als Pedant, der ich nun wirklich nicht bin, fand ich es bei der Blautaubengeschichte völlig korrekt, dass Du bei den
    Württembergern „Züricher“ geschrieben hast, warum das aber auch bei „Tante Gosia’s Hunden“? Eine eher schwierige
    Frage ist die, ob Du bei Aussagen der beiden Stuttgarter nicht das in Deutschland gängige ß notwendig wäre?
    Doch das ist der Blickwinkel eines Lektors (der auch einige Tippfehler gefunden und vorsichtshalber, für weitere Auflagen
    oder gar eine Gesamtausgabe, notiert hat). Was die literarische Leistung betrifft, so muss ich, ehrlicherweise passen:
    Ich kann es nicht beurteilen. Stilistisch gesehen, als punkto Handwerk, sind die Texte gekonnt geschrieben.
    Die andere Frage, die entscheidende Frage ist aber: Was haben diese Texte mit dem Andreas Meier, den ich doch etwas
    zu kennen meine, zu tun? Ich arbeite an deren Lösung.

    Gruss, Peter

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