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Per Meerin

Es ist möglich, in Per Meerin einen späten Nachfahren und Angehörigen eines prähistorischen indigenen Stammes zu sehen, der vor Urzeiten aus dem Gebiet um die Dnjepr-Mündung in den westeuropäischen Raum eingewandert ist und sich dann irgendwo zwischen Elbe, Rhein und Rhone niedergelassen haben muss. Da der Stamm keine archäologisch verwertbaren Zeugnisse hinterlassen hat, gibt es seitens der Wissenschaft keine tragfähigen Hypothesen über die Geschichte, die Kultur und die Lebensweise seiner Angehörigen. Für Per Meerin selbst ist das ein verschmerzbarer Mangel, denn seine fernen Verwandten sind ihm trotzdem nah; die Geister seiner indigenen Ahnen sprechen auch ohne Vermittlung durch wissenschaftliche Theorien zu ihm, hat er doch im Laufe seiner Jahre gelernt, ihre Sprache zu verstehen und ihr Totem, einen blauen Hasen, zu verehren. Mit solcher archaischer Familienverwandtschaft wäre Per Meerin ja gar kein Sonderfall, denn wir alle haben Vorfahren, die, wenn man nur weit genug zurückgeht, irgendeinem, von irgendwo eingewanderten Stamm angehörten; wir sind alle späte Nachfahren eingeborener Eltern.Nur das zeichnet Per Meerin vor den meisten, mich eingeschlossen, aus, dass er die Verbindung zu ihnen nicht verloren hat. Ich, der Betreiber dieser Website, bin zum Glück seit einigen Jahren mit Per Meerin befreundet und diese Freundschaft ermöglicht mir den Umgang mit einem Menschen, der dank seinen Ahnen Zugang hat zu einer rückwärtigen Dimension des Lebens, die uns modernen Menschen meistens verbaut ist, aber hinter einer inneren, unüberwindlichen Absperrung auch auf uns warten würde.
Per Meerin lebt mitten in der gegenwärtigen Stadt in einer Sackgasse, zurückgezogen wie ein Eremit. Er schreibt, weil stille Leserinnen und Leser für ihn die angenehmsten Dialogpartner wären, die er sich vorstellen kann. Doch der Antrieb, seine Texte selbst unter die Leute zu bringen, geht ihm ab, denn jede Form von Öffentlichkeit ist ihm ein Schreck. Ich habe mich entschlossen, diese Aufgabe für ihn zu übernehmen und eine Auswahl seiner Texte, die er mir gerne zur freien Verfügung überlässt, auf dieser Website zu publizieren.

Ein Gespräch mit Per Meerin

A.M. Per Meerin, Sie sagen, Sie stünden mit Ihren Urahnen, die vor tausenden von Jahren gelebt haben, in Kommunikation. Kommunikationsverbindungen über tausende von Jahren?

P.M. Unsere Ahnen sind präsent. Sie sind nicht weit weg.

A.M. Wollen Sie damit sagen, wir können sie in unserer Phantasie vergegenwärtigen?

P.M. Der Geist erstreckt sich in beide Richtungen, nach vorn in die Zukunft und zurück in die Vergangenheit. Aber nach vorn wie nach hinten gibt es eine Schranke, die Schranke, die uns unsere Gegenwart setzt. Die Schranke ist eine Wand. Bis dahin reichen unsere Vorstellungen vom Blickpunkt unserer Gegenwart aus, nach vorn und nach hinten, und nicht weiter. Doch in der Wand gibt es ein paar Türen. Durch diese treten, wenn wir Glück haben, die Ahnen in unsere Vergangenheit und Gegenwart. Sie kommen von einer jenseitigen Zeit, jenseits des Radius, den unsere gegenwärtigen Vergangenheits- und Zukunftsvorstellungen abdecken.

A.M. Ich versuche, was Sie sagen, psychologisch zu interpretieren: Könnte man sagen, die Ahnen, die Sie von jenseits des gängigen Zeithorizonts in unsere Zeit eintreten lassen, seien Repräsentationen von Kräften aus dem Unterbewussten, dem individuellen, oder vielleicht sogar dem kollektiven?

P.M. Psychologisch gesprochen könnte man sagen, dass die Stimmen der Ahnen die Ahnung wecken, dass und inwiefern die Macht der Gegenwart mit ihrem gewaltigen Aufgebot an Faktizität auch auf einer gewissen Verdrängung basiert. Und dass die Erinnerungen der Ahnen Facetten einer radikalen, aber möglichen und ergänzenden Zukunft darstellen, einer Zukunft, von der her unsere Gegenwart selbst schon ein bisschen zur Erinnerung wird und damit von ihrem ausschliessenden Realitätsanspruch verliert.

A.M. Ihre Ahnen als Vermittler von persönlicher oder – wer weiss – gesellschaftlicher Utopie?

P.M. Nein, da greifst du zu hoch. Dazu fehlt ihnen das theoretische Talent. Sie streuen Erinnerungs-Glitzer oder -Funken in die Gegenwart, von mir aus utopische.

A.M. Ich möchte noch einmal auf die Türen in der schwarzen Wand unseres gegenwärtigen Zeithorizonts zu sprechen kommen, die Sie vorher erwähnt haben. Die Türen zu der «jenseitigen Zeit». Jenseitige Zeit! Entweder man nimmt das für bare Münze und dann ist ein ziemlicher steiler Anspruch damit verbunden, nicht? Oder es ein Trick, mit dem Sie Ihre Phantasien über die sogenannten Ahnen für Aussenstehende plausibler machen wollen. Die Türen in der Zeitwand als Zugangstüren zur Fiktion?

P.M. Ich weiss, du magst solche theoretischen Analysen, aber das ist mir jetzt etwas zu theoretisch. Ich meine, es geht ja nicht primär um begriffliche Differenzierungen, sondern um Ahnen, die in einer zeitlich entlegenen Kultur und Gemeinschaft gelebt haben und von denen ich ein bisschen erzähle, wenn du willst-

A.M. Gut. Also, wie Sie wollen. – Es sind also mehrere, die für Sie Bedeutung haben?

P.M. Hauptsächlich drei, zwei ältere und eine jüngere.

A.M. Da ist mir noch vieles unklar. Aber lassen Sie uns über Ihre drei Ahnen sprechen. Was sind das für – kann man sagen: Personen?

P.M. Wer jetzt? Die älteren zwei oder die jüngere. Das sind zwei komplett verschiedene Geschichten.

A.M. Die älteren zwei zuerst.

P.M. Jaar und Kaar, zwei Brüder, spezialisiert auf das Finden von Moosen und Flechten, die man im Winter brauchte, um heilenden Tee zu machen, und im Sommer verbrannte, um Insekten fernzuhalten. Tagelang waren sie unterwegs in den Wäldern und Hügeln mit ihren Renntierfelltaschen, bewaffnet nur mit einem Holzstecken, obwohl es nur so wimmelte in den Wäldern von wilden Wesen und Geistern, und nicht nur harmlosen. In immer wieder neue Gegenden führten sie ihre Streifzüge, denn ihre Sippe lagerte nie lange an einem Ort, denn wenn man lange an einem Ort hängen blieb, liessen die Kräfte nach, die man brauchte, um die Zeichen Âmas, wie sie das Sein um sich herum nannten, richtig zu deuten. Und das Leben der Sippe hing davon ab. Und es war vor allem Jaar, der jüngere der beiden Brüder, der stark darin war, Stellen, die von einem widrigen Geist besetzt waren, zu wittern und zu lokalisieren, während Kaar, der ältere, ein herausragender Besprecher war, weil er viele wirksame Sprüche kannte, mit denen sie sich schädliche Einflüsse vom Leib halten konnten. So kamen sie von ihren Moos- und Flechten-Touren, die sie weit in unbegangenes Gebiet führte, heil zurück und auch ihre Sippe schützten sie mit ihren Fähigkeiten vor viel Ungemach.

A.M. Sie sagen, Jaar habe die Fähigkeit gehabt, feindliche Geister zu identifizieren. Ist das so zu verstehen, dass die beiden Brüder in einer animistischen Welt lebten, in der die Natur von unzähligen guten und bösen Geistern belebt ist?

P.M. Gute Geister, böse Geister! Moral spielt keine Rolle hier. Alles ist Geist, denn Geist ist das Innere des Äusseren. Die Natur ist sichtbarer Geist, der Geist unsichtbare Natur. Doch wir leben in der Welt des Geschaffenen, da zerfällt der Eine Grosse Geist in unzählige Geister, alle ausgestattet mit der Sehnsucht nach der ursprünglichen Einheit, also Âmas. Daher die Neigung aller Dinge, durch die Verbindung mit anderem über sich hinauszuwachsen, sowohl im äusserlich Materiellen als auch im Geistigen. Doch in ihren Verbindungsstrategien unterscheiden sich die Wesen stark. Es gibt solche, die suchen sich zu erweitern durch Freundschaft und Liebe – aber auch solche, die andere mit allerhand trügerischen Tricks dazu verführen, sich ihnen zu ergeben, damit sie an ihrer Lebenskraft schmarotzen und wachsen können. So offenkundig der Unterschied scheint, so schwierig ist es oft die Unterscheidung zu treffen. Doch gerade darin sind die Moos- und Flechtenbrüder eben Meister, vor allem Jaar.

A.M. Die Unterscheidung, von der Sie sprechen, leuchtet mir ein, falls Sie von sozialen, also zwischenmenschlichen Verhältnissen sprechen. Aber in der Natur draussen, wo sich die Moos- und Flechtenbrüder, wie Sie sie nennen, doch meistens bewegten?

P.M.  In der Natur gibt es freundlich nährende Wesen, ohne die unser Leben nicht möglich wäre. Aber auch solche von der anderen Sorte, die uns nicht sonderlich gewogen sind. Am Virus Covid 19 haben wir ein aktuelles Beispiel. Aber seit langem ist es der Mensch, der gewalttätig und schmarotzend die Natur einbricht.

A.M. Sehr wahr, aber kehren wir zurück zu dem prähistorischen Brüderpaar. Mir scheint, Sie phantasieren sich die beiden als «edle Wilde» zurecht, um die Projektion von Kategorien wie «Freundschaft» und «Feindschaft» in die Natur zu rechtfertigen; aber das sind doch höchst anthropomorphe, menschlich-soziale Kategorien, die es objektiv gesehen in der Natur nicht gibt.

 P.M. Das stimmt zur Hälfte; die andere Hälfte ist die: Bevor die Natur als objektiv gegebenes, zu vermessendes und den menschlichen Bedürfnissen dienstbar zu machendes Territorium überhaupt erfahrbar wird, muss die Freundschaft mit ihr bereits gründlich aufgekündigt sein. Anstelle einer Beziehung, in der die Partner gleichberechtigt sind und die gegenläufigen Interessen immer wieder aufs Neue ausgehandelt werden, wird eine Herrschaftsstruktur etabliert, in der der eine Pol, der menschliche, weitgehendend unbeschränkte Verfügungsgewalt über den anderen ausübt.

A.M. Ich nehme an, Sie meinen die moderne Zivilisation unter der Führung von Wissenschaft, das heisst hauptsächlich Naturwissenschaft, und Technik. Es ist hier ja tatsächlich ein Wissen über die Funktionsweise der Natur und die Möglichkeiten ihrer technischen Nutzbarmachung entstanden, das alles Frühere um ein Vielfaches übertrifft. Das ist auch eine absolut einmalige, unvergleichliche Fortschrittsgeschichte. Würden Sie das, sagen wir mal: im Namen Ihrer Moos- und Flechtenbrüder bestreiten?

P.M. Keineswegs, aber es ist eine gewaltige Erfolgsgeschichte fast ausschliesslich zugunsten des Menschen und nicht zugunsten der Natur. Voraussetzung für diese Erfolgsgeschichte ist es eben, dass die Natur zum objektivierten, verrechenbaren Es degradiert worden ist und aus der Möglichkeit einer Ich-Du-Beziehung mit dem Menschen ausgeschlossen wurde.  Das gilt auch dort, wo sie als ästhetisch angenehme Kulisse für die unterschiedlichen Freizeitaktivitäten fungiert oder zum Gegenstand ökologisch orientierter Renaturalisierungsprogramme wird, meistens wenigstens.

A.M. Ich sehe in etwa, wo Sie stehen. Welche Rolle spielen nun die Moos-und Flechtbrüder Jaar und Kaar?

P.M. Zuerst einmal muss man wissen, dass unsere Vorstellung von Natur, unser Begriff «Natur» den beiden völlig unbekannt ist. Was sie als «Âmas» erleben, ist eine Art Resonanzraum, an dem alle Wesen teilnehmen. Auch die Menschen sind in ihn miteingebunden, ohne allerdings darin das alleinige Sagen zu haben. In «Âmas’» tiefer Stille haben alle ihre Stimme und alles verdankt seine Sprache dem ihm innewohnenden Geist, denn Geist ist immer Sprache. Wie könnte es anders sein? Aber im unendlich vielstimmigen Chor der Geister ist der Mensch ein ungeheures Mitglied, denn er, der sonst für das Überleben schwach gerüstet ist, verfügt über eine einzige Waffe, allerdings eine mörderische: die Logik nämlich, in deren scharfkantiges Gehäuse er den Geist einfängt und sich so verfügbar macht. Aber der den Gesetzen der Logik unterworfene Geist ist nicht mehr der Geist «Âmas’», sondern der menschliche Geist, der von der Gemeinschaft mit allen anderen Wesen im Reich «Âmas’» ausgeschlossen ist. Meine frühen Ahnen Jaar und Kaar sind es allerdings noch nicht; sie haben die Separierung von «Âmas» noch nicht vollständig vollzogen; quasi noch mit einem Bein stehen sie auf dem jenseitigen Boden und pflegen das doppelte Verstehen, d.h. sie kennen auch jene Sprache, die aus «Âmas’» Stille jenseits der Grenze erklingt.

A.M. Echte Naturburschen also! Und wie unterscheiden sich die zwei Brüder nun voneinander? Sie haben bereits angedeutet, Jaar, also des Jüngeren Talent bestehe darin, nützliche Geister von solchen zu unterscheiden, die ihm und seiner Sippe schaden, quasi Kraut und Unkraut säuberlich zu trennen, und der Âltere, Kaar, habe die Fähigkeit, mittels Abwehrzauber die destruktiven Geister in Distanz zu halten. Habe ich das richtig verstanden?

P.M. Die Vorstellung, Jaars Fähigkeit bestehe darin, Kraut von Unkraut zu scheiden, führt dich in die Irre, denn er ist ja kein jätender Gärtner, sondern mit seinem Bruder Kaar zusammen ein umherziehender Moos- und Flechtensamm-ler in Âmas’ stillem Reich unzählbarer Stimmen. Jedem Wesen ist es gegeben, sich zu verlautbaren, um seinen Geist Ausdruck zu verleihen. Viele bleiben ja stumm und gleichgültig, wenn Jaar und Kaar die Sphäre ihrer Gegenwart betreten. Andere schlagen sofort einen zugewandten, freundschaftlichen und hilfreichen Ton an. Doch wäre es grundfalsch, wenn du meinst, Âmas sei eine Art natürliches Paradies, in dem rundherum gefällige Harmonie herrscht. Eher das Gegenteil ist der Fall: eine mörderische Spannung herrscht da, denn viele Wesen sind ja mit einem Körper aus schwerer Materie begabt und deshalb wiederkehrend dem Diktat des Hungers und anderer Bedürfnisse ausgeliefert. Nicht nur die Höhlenlöwen, Höhlenbären, Säbelzahnkatzen oder die Menschenjäger mit ihrer Waffe etc.; die Gier, das Töten, An-sich-Reissen, Rauben und Sich-Fressen sind flächendeckend gegenwärtig in Âmas. Tag und Nacht erbebt die Stille von Drohgebrüll, Todesschreien, Triumphgeheul, Sirenengesängen und heimtückischen Verlockungen. Einiges grob wie Steinlawinen, anderes subtil wie Maiglöckchenläuten. Und darunter, als würden silberne Fischchen in schwarzem Gewässer aufblitzen, immer wieder auch Stimmen der Freundschaft, der Liebe und Treue. In dieser symphonischen Kakophonie der Stimmen kennen sich Jaar und Kaar aus. Ihr fein ausgebildetes Gehör leitet sie auf dem Gang zu den Plätzen, wo die heiligen Moose und Flechten schlummern. Unterwegs vertrauen sie sich strikt dem Schirm und Schutz der sie freundschaftlich leitenden Wesen an, von Birke zu Bach, von Blume zu Berg, um ja nicht in die Fänge jener begierigen Mächte zu geraten, die es bloss darauf abgesehen haben, sie für sich zu kapern. Jaar voraus, lauschend – Kaar singend hintendrein.

A.M. Nicht schlecht, solche Fähigkeiten zu haben. Die beiden Arten von Stimmen, die freundlichen und die, die es auf Besitzergreifung abgesehen haben, gibt es ja nach wie vor. Sie sagten anfangs, Kaar kenne viele Sprüche zur Abwehr von übergriffigen Geistern. Ist es das, was er singt auf dem Weg zu den Moosen und Flechten? Abwehrzauber?

P.M. Es sind Lieder gegen die Angst. Gegen ihre Angst vor dem Getümmel und Gewimmel all der hungrigen, gefrässigen, besitzergreifenden, einverleibenden Leiber und Geister, die sich in Âmas tummeln. Und wer Angst hat vor ihnen, hat sich ihnen schon halb ergeben und ist schon beinah verloren. Singend Angst in Mut zu transformieren ist Kaars Spezialität. So singt er zum Beispiel: „Weisses Rauschen der Lüfte, schwarzes Rauschen des Bluts“ oder „Singen der Vögel, Husten der Drachen, es pocht das Herz mir geschwind“ oder „Es reisst das Wasser über die Steine dahin, es jagen meine Gedanken ihm nach“ oder Ähnliches.

A.M. Schön und gut, man sagt ja, singen sei gut gegen die Angst.- Aber sagen Sie, Herr Meerin, inwiefern sind denn diese beiden prähistorischen Herren, von denen Sie behaupten, es seien Ihre Ahnen, für Sie nun bedeutsam? Handelt es sich nicht einfach – sagen wir einmal: um ziemlich phantasievolle Träumereien? Ausflüge in ein exotisches Traumland sozusagen, in dem man zur Entlastung vom beschwerlichen Alltag gerne mal ein bisschen Ferien macht.

P.M. Du hast nicht aufgepasst. Jaar und Kaar sind präsent in der Gegenwart. Ich sagte das schon. Sie sind kraftvolle Begleiter im Alltag und alles andere als unverbindliche Ferienbekanntschaften. – Schau: eine unüberschaubar lange Reihe von Ahnen und Ahninnen steht hinter mir, auch hinter dir natürlich, hinter jedem Menschen steht eine solche Reihe, die zurückreicht bis in die Morgendämmerung der Menschheit und noch weiter und weiter zurück. Ein Glück, wenn sich welche aus der Reihe lösen und sich neben dich stellen. Egal, wo sie gestanden haben, nah an deiner eigenen kleinen Lebenszeit oder weiter hinten oder ganz weit hinten, ein Glück ist es immer, wenn sie neben dich treten, denn was sie mitbringen, ist die Quintessenz ihrer Lebenserfahrung, die geistige Summe eines ganzen Lebens, die sie grosszügig mit dir zu teilen bereit sind. Jedenfalls ist das so bei Jaar und Kaar – und nicht weniger eigentlich bei Enn.

A.M. Enn – endlich der dritte Ahn an Ihrer Seite!

P.M. D i e dritte. Eine Frau. Enn lebte damals – es ist auch lange her, aber längst nicht so lang wie Jaar und Kaar – am Rande eines Dorfes, umgeben von einem schönen Kranz aus Feldern und Ziegenweiden. Die Felder und Weiden berührten mit ihren äusseren Säumen den Eichen- und Buchenwald, der sich damals ringsum noch weit in alle Himmelsrichtungen ausgedehnte. Würde man die heute übliche geographische Nomenklatur benutzen, könnte man sagen, Enns Dorf habe sich am Oberlauf des Flusses Kyll in der nördlichen Eiffel befunden, ganz nahe der Gemeinde Dahlem. Aber das tut nicht viel zur Sache.
Mit den Dorfziegen hatte Enn nichts zu schaffen. Im Herbst half sie zwar manchmal bei der Getreideernte, aber ihr hohes Ansehen im Dorf verdankte sie ausschliesslich ihrer Fähigkeit, Töpfe, Schüsseln, Näpfe aus Ton herzustellen, Gefässe, die man unbedingt brauchte, um Vorräte aufzubewahren sowie als Koch- und Ess- und Trinkgeschirre. Enn war die geborene Töpferin. Jeden zweiten Neumond drückte sie ihren beiden ältesten Söhnen je einen Sack aus Ziegenleder in die Hand und befahl ihnen, frischen Ton von einer nahen, aber nicht ganz leicht zugänglichen Stelle am Ufer des Kyll herbeizubringen. Um mit dem klebrigen Material besser arbeiten zu können, vermischte sie es mit Mehl aus zermahlenen Ziegenknochen. Töpferscheiben waren noch nicht erfunden. So formte Enn mit ihren Händen Tonwülste, dickere oder dünnere, je nachdem, was sie im Sinne hatte. Dann schichtete sie diese auf einer runden Bodenplatte auf, Lage um Lage, bis zur gewünschten Höhe. Die Oberflächen verstrich zu glatten Innen- und Aussenwänden. Zum Einritzen von Ornamenten verwendete sie Splitter von Ziegenknochen oder zugespitzte Hölzchen. Die Rohlinge mussten zirka zehn Tage an der Sonne trocknen, bevor sie gebrannt werden konnten. Brennöfen gab es auch noch nicht. Enn brannte ihre Produkte in einem grossen offenen Feuer, das sie frühmorgens draussen auf einem der brachliegenden Felder anzündete und unterhielt, bis die Sonne den Tageshöchststand erreicht hatte. Oder sogar noch länger.

A.M. Wann wurde die Töpferscheibe erfunden? Und der Brennofen? Das ist eine Weile her. Und Enn lebte davor. Lassen Sie mich raten: Die Leute sind sesshaft, betreiben Landwirtschaft und Viehzucht. Ich würde mal schätzen: Wir reden vom Neolithikum, der Jüngeren Steinzeit.

P.M. Nicht schlecht. Vor fünf-, sechstausend Jahren von heute her zurückgerechnet, denke ich. Von Enn selbst ist zu diesem Punkt nichts zu erfahren, denn Jahrzahlen sind nicht ihre Spezialität. Generell Zahlen, die über die zehn Finger hinausgehen.

A.M. Trotzdem hat diese neolithische Töpferin eine Bedeutung für Sie?

P.M. Die hat sie tatsächlich auf sehr angenehme Weise. Nebst den Gefässen für den alltäglichen Gebrauch, den Vorratstöpfen, Milchschüsseln, den Trinkschalen und Essnäpfen etc. machte Enn auch kleine, halbkugelige Behälter mit Deckeln, die einem ganz besonderen Zweck dienten. Darin bewahrte sie nämlich Überbleibsel von den grossen Gaben, die ihrem Dorf zuteil geworden waren, vor dem Frass der Zeit. An den Wänden ihrer strohgedeckten Holzhütte waren ringsherum Wandbretter angebracht, auf denen sie in Reih und Glied standen, die tönernen Behältnisse mit den wertvollen Erinnerungsstücken, jedes mit einem eingeritzten Krakel als besonderes Kennzeichen versehen. Da lagerten wohlverwahrt zum Beispiel die Milchzähne von Hildas Drillingen und ein paar Zehennägel des verehrten Gord, der das Dorf den Gebrauch von Fliegenpilzen zu hellsichtigen Träumen und von Mutterkorn gegen Geburtsblutungen gelehrt hatte; da lagerten vertrocknete Rosen aus dem Hochzeitskranz von Zikka, die als erste Fremde ins Dorf gekommen war und damit die verwandtschaftlich-freundschaftlichen Beziehungen zum Nachbarsdorf begründet hatte, und vertrocknete Haferähren als Andenken an jenen Goldenen Sommer, der dem Dorf endlich wieder genügend Nahrung beschert hatte, nachdem dreimal hintereinander die Hälfte der Ernte im Regen verfault war. All das hatte Enn in ihrem langen Leben selbst miterlebt. Vieles war auch geschehen, was die Seele schwarz zu machen drohte. Als sie noch jung war, wütete eine Seuche im Dorf. Viele waren gestorben. Die Kranken hatten geschwulstartige Knoten am ganzen Körper bekommen, dann faulten ihnen bei lebendigem Leib Nase, Ohren, Finger und Zehen ab. Auch starben immer viele der Neugeborenen kurz nach der Geburt. Drei ihrer eigenen sechs Kinder wurden tot geboren. Ihr Mann war beim Fischen im Kyll ertrunken. Eine Gruppe Männer hatte nach ihm gesucht und am frühen Morgen seine Leiche ihr vors Haus gebracht. Schlimm waren auch die häufigen Perioden des Hungers, wo man fast alle Ziegen schlachten musste, nur um zu überleben. – Aber die Nöte gingen vorbei; die Trauer, der Schmerz verebbte mit der Zeit; was blieb, waren die Andenken in den Behältern auf den Wandbrettern

A.M. Ich würde sagen, Enn pflegte einen sehr selektiven Umgang mit ihren Erinnerungen. Die guten ins Töpfchen, die schlechten … na ja, möglichst schnell Schwamm drüber. Sehen Sie das auch so?

P.M. Wie viele Eicheln fallen im Herbst zu Boden? Wie viele Bucheckern? Gut, unterschiedlich je nach Jahr, aber manchmal sind es massenhaft viele. Die meisten verfaulen sang- und klanglos unter dem Mutterbaum und düngen den Boden um seinen Stamm; nur aus wenigen wachsen Eichen oder Buchen, nur bei wenigen vollzieht sich das Wunder des Lebens erneut. Und nur aus wenigen der zahllosen Ereignisse, die der Lebensbaum von sich fallen lässt, vollzieht sich das Wunder des Glücks. Aber pass auf, «Lebensbaum», «Ereignisse», «Wunder» sind nicht Begriffe, an denen sich Enn orientiert. Ähnlich wie Jaar und Kaar mit ihrer Vorstellung von Âmas, verstehen nämlich auch meine Ahnin Enn und ihre Sippe die Welt in Kategorien, die uns fremd sind und deshalb umständlich umschrieben werden müssen. Einer der Leitbegriffe in Enn’s Bewusstsein wird zum Beispiel repräsentiert durch das Wort mollo’q. Es handelt sich bei mollo’q um ein Zustandsverb. Linguistisch lässt es sich in die drei Bestandteile mol-, -lo und -q analysieren. Der Verbstamm ist -lo und bedeutet etwa «glücklich werden oder sein, weil man etwas Bekömmliches, Nährendes gefunden bzw. zu sich genommen hat». Das Präfix mol- ist ein Aktionsmorphem, welches signalisiert, dass ein Geschehen sich zwischen zwei Polen abspielt und bei beiden eine gleichartige Wirkung hervorbringt. Die Flexionspartikel ‘q drückt aus, dass sich etwas gerade jetzt ereignet, aber auch immerzu, nämlich jenseits der Zeit im Zeitlosen. Semantisch verwandt mit mollo’q ist der Ausdruck na’al mit der ungefähren Bedeutung von «Geschenk, Gabe, Wirklichkeit». Aber besser wäre es, na’al nicht als Nomen zu missverstehen – in Enns Sprache gibt es gar keine Nomina in unserem Sinn – es ist wieder eine Art Zustandsverb und bedeutet genauer gefasst so etwas wie: «als Geschenk bzw. als Gabe zur Wirklichkeit werden» oder «die Wirklichkeit als Geschenk oder Gabe erfahren». Das Gegenteil von na’al wäre kena’al, wobei ke- eine Negationspartikel ist. «Kena’al» bedeutet «stehlen», «rauben», «gewalttätig als Besitz an sich reissen», verwendet vor allem als Bezeichnung einer Fehlhaltung, die dem Leben entreissen will, was es nicht von sich aus hergibt.

A.M. Heisst das, Herr Meerin, Ihre archaische Enn versieht Sie mit einer Perspektive, die es Ihnen gestattet, Kritik an der heute sehr verbreiteten, sagen wir mal: haben-orientierten Lebensweise zu üben und ihr – was ja nicht ganz absurd wäre – eine räuberische Grundhaltung vorzuwerfen? Oder mit anderen Worten: Ist Enn eine fundamentale Kapitalismus-Kritikerin – quasi avant la lettre? Damals gab es ja noch weit und breit keinen Kapitalismus.

P.M. Wenn ich mir Munition zur Gesellschafts- oder Wirtschaftskritik beschaffen will, kenne ich potentere Adressen als Enn. Ihre Stärke ist nicht die Kritik, sondern ihre Zufriedenheit, d.h. ihr methodisch gepflegtes Talent, sich angesichts der wertvoll befrachteten Wandbretter in ihrer Hütte in den Zustand von «mollo’q» oder «na’al» versetzen zu lassen. Die aneinandergereihten, individuell bekrakelten Töpfchen mit den Andenken an die Glücksfälle und Geschenke des Lebens erfüllen sie mit einer zeitlosen Dankbarkeit und einer erwartungs- und vertrauensvollen Offenheit für das Kommende.

A.M. Und das Widrige, die Enttäuschungen, der Verlust, der Schmerz, das Dunkle des Lebens, was macht sie damit?

P.M. Das gab es natürlich, ich habe schon davon gesprochen, in ihrem Leben gab es das und auch im Leben ihrer Dorfgemeinschaft; es gab davon sogar viel mehr als heute. Aber es war die Masse tauben Gesteins, das die Goldadern barg. Man räumt es möglichst schnell ab, um an das Verwertbare heranzukommen. Es ist unvermeidlich, aber es zählt nicht. Es ist der dunkle Hintergrund, vor dem das Glück umso mehr leuchtet. Es ist zu erdulden, aber verdient keinen Respekt. Es ist das Vorläufige, Vorübergehende – nicht das Zeitlose. Es nährt nicht. Es ist ausserhalb der Lichtung, in der geschieht, was Enn als «mollo’q» und «na’al» bezeichnet.

A.M. Think positiv! So würde man heute wohl nennen, was Enn praktiziert. Ist es diese geistige Haltung, um derentwillen Sie den Kontakt zu Ihrer Ahnin Enn pflegen, Herr Meerin?

P.M. Ahnen sind mehr und vor allem etwas ganz anderes als eine Verhaltens- beziehungsweise Denkdevise. Ahnen haben uns Lebenden immer voraus, dass sie vollendete Menschen sind, während wir noch unvollendet sind. Deshalb können wir auch nicht alles, was sie uns mitteilen wollen, verstehen. Aber wenn man sich bemüht, ihnen zuzuhören, sind sie in jedem Fall eine Quelle wertvoller Hilfe und Unterstützung. Jeder und jede auf eigene Art. – Wie steht es mit dir? Bist du selbst im Kontakt?

A.M. Bis jetzt noch nicht. Aber ich lese gerade ein Buch über einen westafrikanischen Stamm mit einem ausgeprägten Ahnenkult.

P.M. Ja dann!

A.M. Herr Meerin, ich danke Ihnen, dass Sie so offen über Ihre Beziehung zu Ihren Ahnen gesprochen haben.

P.M. Ja dann!

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