Tagebuch

18. Mai 2023

Philosophie

Wozu soll denn Philosophie nützlich sein? – Sie erinnert hartnäckig daran, dass das Nützlichkeitsdenken seine Grenzen hat.
Es kommt vor, dass Philosophie auf Befremdung, Konsternation, Ablehnung stösst. Wer sich auf philosophische Wege begibt, setzt sich gelegentlich dem Verdacht aus, nicht richtig zu funktionieren, kein vollwertiges Mitglied der Alltagsbewältigungsgesellschaft zu sein.
Es gibt eine richterliche Instanz in uns, die verurteilt die Philosophie – auch den Philosophen, die Philosophin in uns – wegen Ordnungsstörung, das heisst, bloss Sand im Getriebe zu sein. So wird sie zum Schweigen gebracht. Und das geschieht viel weniger spektakulär als im berühmten Fall des Sokrates.

31. Januar 2023

Chat GPT – Menschwerdung der Maschine – oder Maschinewerdung des Menschen? Die Maschine nach dem Ebenbild des Menschen – und umgekehrt: der Mensch nach dem Ebenbild der Maschine? Siehe das Human Brain Project!: Forschungsprojekt der Europäischen Kommission, welches das gesamte Wissen über das menschliche Gehirn zusammenfassen und mittels computerbasierten Modellen und Simulationen nachbilden will. 
Mensch wie Computer sind doch informationsverarbeitende Systeme, nicht wahr? – Nicht wahr?
„Information“ als Schlüsselbegriff der Moderne!
Die Begriffsgeschichte des Begriffs „Information“ studieren!

 

26. September

Die Birnen hängen reif am Baum.
Noch vor einem halben Jahr waren die Äste leer.
Gestern habe ich die Todesanzeige von B.K. in der Zeitung entdeckt.
Noch vor ein paar Wochen hat sie ein optimistisches Mail verschickt.

21. September

Am Morgen: Der Tag steht vor mir wie eine Mauer. Ein Törchen ist darin eingelassen. Ich gehe hindurch und stehe im Garten vor dem Baum, den wir vor 24 Jahren gepflanzt haben. Wie gross er geworden ist! Eine Freude!

20. September 2022

Reiche Ernte im Gemüsegarten. Mehr als doppelt so viel wie in vergangenen Jahren. Vermutlich dank der Klimaerwärmung, denke ich. Aber das Wörtchen „dank“ passt nicht recht in diesen Zusammenhang.

11. April 2022

Geht es nicht immer nur um das Eine: Wege aus der Sackgasse der Moderne zu finden?
Die Moderne – eine gewaltige Exklusionsmaschine. Ausgeschlossen ist a) auf radikale Weise, was bereits ausgerottet ist und täglich ausgerottet wird; b) was in Restbeständen in Reservaten dahinsiecht.
Neue Leitbilder: statt Spitzensportler, Spitzenpolitiker, Spitzenwissenschaftlerin, Spitzenirgendwas – z.B. Christophorus, der das Christuskind von der einen Seite des Flusses auf die andere trägt oder die Libelle, die sich in ihrer Entwicklung zum erwachsenen Tier x-mal häutet. Mythische Bilder als Matrix der Existenz- und Weltinterpretation finden. Das als Bestandteil der Elementarbildung.
Lebensdienliche Mythen, wie sie bei indigenen Völkern verbreitet waren/sind. Nicht gegen die naturwissenschaftliche Sicht, sondern diese begleitend, untermauernd, leitend, relativierend. Anderseits auch Bewusstsein für die mythologische Seite der dominanten Naturwissenschaft und Technik: ja, es geht um progressive Ausweitung der Verfügungsmacht über die Natur. Sie soll gehorchen und nach unserer Pfeife tanzen.
In der Distanzierung gegenüber der Moderne gleichen sich Vor-Moderne und Nach-Moderne (nicht dasselbe wie Postmoderne!) Da herrscht akute Verwechslungsgefahr!!!
Vor-Moderne: Trumpianer, Freiheitstrychler, Nationalisten, der internationale Club der Ewiggestrigen. – Und die moderne Abwehr dagegen: Beschleunigen der Exklusionsmaschine, zunehmender moralischer Rigorismus, pharisäische Selbstgerechtigkeit

Denn unendlich ist das Blau des Himmels,
selbst wenn Wolken darin ziehen;
unendlich ist der Sprung des Hasen
ausserhalb der letzten Tür;
nur sieben Tage hat die Welt,
schon der achte geht darüber.
Wolken ziehen sacht vorüber,
ich stehe da mit leeren Händen.

17. März 2022

Zwei Träume: der «neue», utopische Traum eines Lebens in Einklang mit der Maschine und der «alte», romantische Traum eines Lebens im Einklang mit der Natur. Die beiden Träume hängen in einer asymmetrischen Beziehung zusammen. Der zweite, (scheinbar) alte, ist eine Reaktion auf die zerstörerischen Folgen des ersten.

22.Januar 2022

Bei Sonnenaufgang fällt Licht auf mein Spiegelbild und reisst etwas auf. – Eine Wunde? – Ich schaue in den Spiegel und sehe ein Abbild, in dem ich mich selbst nicht erkennen will. – Ein Wesen, das noch gar nicht gemerkt hat oder sich aus einem dunkeln Grund weigert anzuerkennen, wie facettenreich und abgelegen tief seine Bedürfnisse sind. Und was für ein wunderbarer Schlüssel zum eigenen Umfang und den eigenen Tiefen es ist, sich und die Welt bis in die metaphysischen Wurzeln hinab im Licht der Bedürfnisse zu sehen. In magisches Zauberlicht getauchte Dinge tanzen um mich herum, preisen sich mir an, wollen von mir erworben, geschleckt, gefressen, geritten werden mit dem Gratis-Bon, durch ihre Anverleibung/Einverleibung eine wundersame Statuserhöhung zu erlangen. Die implizite Botschaft ist klar: Ein Mensch, der wenige Bedürfnisse kennt, setzt sich – in unseren Breiten – dem Verdacht aus, ein eher impotentes, untaugliches, asoziales, letztlich ziemlich a-funktionales Wesen zu sein. Oder umgekehrt: Je mehr ich mich damit abfinde, letztlich nichts anderes zu sein als ein Konglomerat konsumgeiler Zellen, desto effizienter und funktionaler trage ich zum irren Schwunge des Ganzen bei, von dem ich ja unleugbar profitiere.

14. Januar 2022

Die natürlichen Wesen, sagen wir mal: den Menschen miteingeschlossen, als bedürftige Wesen zu sehen, mag eine Ethik der Fürsorge nahelegen. Manchmal beobachte ich junge, bereits flügge Jungvögel, wie sie ihre Eltern immer noch um Futter anbetteln – und sich diese dann, gleichsam unwirsch, von ihrem offensichtlich bequemen Nachwuchs abwenden. Die Beobachtung öffnet den Blick auf die der Bedürftigkeit gegenüberliegende Seite.

In bestimmten Grenzen ist Fürsorge zweifellos gut und wichtig, aber darauf gleich eine (maternalistische oder paternalistische) totale Ethik der Fürsorge (nichts ist gut ausser die Befriedigung elementarer Bedürfnisse) zu bauen, ist übertrieben, denn es gibt ja eben auch die andere Seite: nämlich die, dass natürliche Wesen, mutatis mutandis  der Mensch miteingeschlossen, frei, unabhängig, autonom sein möchten und unter Umständen bereit sind, sehr viel zu opfern, um ihre Freiheit, Unabhängigkeit, Autonomie zu bewahren, und gar keine Lust zeigen, sich zum Objekt irgendwelcher Befürsorgungs-Bestrebungen machen zu lassen.

Mir scheint, dass die Problematik über das Natürliche hinaus eine stark normativ-politische Dimension hat, wenn es darum geht, wo die Grenzen eines (potentiell ausufernden?) Fürsorge-Staates sind – und wo seine Pflicht beginnt, die Freiheit und Autonomie des Einzelnen unangetastet zu lassen. Und diese Grenze richtig setzen zu können, wäre ein hohes ethisches Gut.

2.Januar 2022

Gestern mit einem Freund über «das Gute» diskutiert. Er meint, dieses bestünde in dem, was lebenden Organismen (Pflanzen, Tieren, Menschen) zu der Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse verhilft. Man könnte an die Stillung der drei ersten Bedürfnisse in der Maslow’sche Bedürfnispyramide denken, an die physiologischen Grundbedürfnisse (Essen, Schlafen, Sex), die Sicherheitsbedürfnisse (Wohnen, Arbeit, Einkommen) und die sozialen Bedürfnisse (Partnerschaft, Freunde, Liebe). (Maslov sieht noch zwei weitere Bedürfnisstufen, die weniger durch Mangel gekennzeichnet sind als durch das Bedürfnis nach individuellem Wachstum: das Bedürfnis nach Anerkennung und sozialer Geltung einerseits sowie das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung anderseits. Fraglich ist, ob letztere zu den sogenannten Grundbedürfnissen des Menschen gehören.) Generell scheint die Ansicht meines Freundes auf die Behauptung hinauszulaufen, dass das Einzige wahre Gut die Bedürfnisbefriedigung ist.
Das heisst, gut ist erstens die Befriedigung dieser Bedürfnisse selbst, dann aber notwendig auch die Mittel, die zur Befriedigung dieser Bedürfnisse verhelfen. Oder dann radikal eben: Nichts verdient den Namen «gut» ausser der Befriedigung der Bedürfnisse bzw. der Mittel, die zu ihr verhelfen.
Man kann sich schon fragen, was es bedeutet, die Welt gemäss solcher Bedürfnisstrukturen auszulegen. – Impliziert ist da eine bestimmte Vorstellung von lebendigen Wesen, deren Wesen eben durch eine elementare Bedürfnis-Struktur bestimmt ist. Die Welt, in der ein solches Wesen lebt, ist zum Vornherein eingeteilt in Dinge, die dieser Bedürfnisstruktur entgegenkommen und in solche, die das nicht tun, wobei die Auszeichnung «gut» nur den ersteren zukommt. Das heisst, nichts ist an sich gut, sondern nur das, was zur Bedürfnisbefriedigung eines anderen Wesens dient und diese Bedürfnisbefriedigung selbst. Der Sinn aller Dinge (Objekte) für ein solches Bedürfnissubjekt besteht darin, sich zur Befriedigung von Bedürfnissen bereit und zur Verfügung zu halten. Als solche sind sie «gut». –
Wirklich gut?

16. Dezember 2021

Wanderschaft
auf trockenen Strassen
mit unbekanntem Ziel
immer nach Westen
im Kreis herum
mit verstaubter Brille
blindlings getrieben
immer im Kreis herum

Dieses Gedicht ist sehr schnell geschrieben. Nicht bearbeitet. Eine Primär-und Spontan-Übersetzung aus dem hasensprachlichen MERKI VEL KOOT/ORA SEMI TOOT.
Auffällig: Obwohl das Thema des Texts „Wanderschaft“ ist, enthält er kein einziges Tätigkeitswort/Verb. Wer auf Wanderung ist, das Subjekt der Wanderschaft, die wandernde Person oder Gruppe wird nicht genannt. Grammatikalisch gesehen handelt es sich ab Zeile 2 um lauter Attribute zu Zeile 1 (Wanderschaft): Was ist denn das für eine Wanderschaft? – Antwort: eine „trockenen Strassen“, „mit unbekanntem Ziel“, „immer nach Westen“ etc. Gewichtig ist die zweimal genannte Charakterisierung „im Kreis herum“. Das namen- und gesichtslose Subjekt der Wanderung scheint in einem Teufelskreis gefangen zu sein: blindlings getrieben bewegt es sich – mit verstaubter Brille – ziellos im Kreis herum. In scheinbarem Widerspruch zur Gefangenschaft im Circulus vitiosus („immer im Kreis herum“) wird eine Richtung genannt: „immer nach Westen“. Freie Assoziationen dazu: Westen: dort wo die Sonne untergeht oder längst untergegangen ist; Amerika, das Abendland etc.; Westen auch als politischer Begriff im Gegensatz zum Osten etc.

Ich möchte dem Gedichtchen ein anderes gegenüberstellen:

Leichten Schrittes geh ich fort
und niemals werd ich wiederkehren
ins Karree der Zufallsstatt,
in das Geburt mich blindlings warf,
denn weit hinaus geht nun mein Weg
weit hinaus bis an den Strom
der frohgeheilt mein Herz durchtost.

22.5.20/1.8.20

8. August 2021

„Die Banden der metallenen Zeit“? – Der Takt der 5-Tagewochen, der Wochenenden, Lichtsignale, Fahrpläne und Ferientage, der Takt des Techno, des Sekundenzeigers und aller damit koordinierten Herzschrittmacher, der Takt der Jahrgangsstufen, Abgabetermine und Geburtstagsfeiern. – Und dahinter jene andere Zeit, die weit herum verschollene, die schwer zu lernen, leicht zu verlernen ist, die Warte-Zeit, die Zeit, in der wir weniger auf etwas warten als etwas warten, gemäss der schönen Doppelbedeutung des Wortes „warten“. Etwas warten, nicht er-warten, nicht zu-warten, ab-warten etc., sondern warten: das Enkelkind, ein Gedicht, eine Freundschaft, einen Strauch im Garten, eine alte Wunde. Ich meine die Zeit, in der wir die Zeit lassen, nicht nur uns Zeit lassen, sondern überhaupt, die lange Weile auf uns nehmen, damit vielleicht geschieht, was die taktsüchtige Kurzweil verhindert. Von ersterer könnte das stärkste Störpotential ausgehen, eine heilsame Störung, wobei es natürlich viele Alte gibt, die in dem Sinne jung geblieben sind, als sie sich dem Griff der getakteten Zeit nicht entwinden wollen – oder nicht entwinden können.
Es ist ja auch nicht leicht.

20.Juli 2021

bald steigt die freude
treibt aus und spriesst in die welt
bald fällt sie und zerschellt
auf steinernem grund:
so ereignet sich das Ganze

Alle diese kleinen Gedichte sind Übersetzungen aus einer inneren Sprache in eine äussere. Die äussere ist schlicht unser gemeinsames Deutsch. Die innere ist uralt und kommt ich weiss nicht woher. Beim vorliegenden Gedicht habe ich in der ersten Zeile ein Wort in der Übersetzung nicht untergebracht. Es ist das Wort „kala“, das soviel bedeutet wie „ausserhalb des sozialen Kommunikationsnetzes“ und – glaube ich – nicht identisch ist mit dem sprachlichen Zusammenhang, der uns Menschen in die Welt bindet.

7. Juli 2021

Riss

Die lange gewundene Strasse
mündet in ihren Beginn
wiederholt eine Liebe
mit einem Riss in die Tiefe
immer wieder neu
geflickt

Der Flick auf der langen Strasse der Alltagssprache: die Poesie?

1.Juli 2021

Plötzlich:
rasende leere –
durchs dickicht der dinge
eine spur
ins nichts

Zwei Satzzeichen: ein Doppelpunkt, ein Gedankenstrich

Der Doppelpunkt: markiert die Zäsur nach „plötzlich“. („plötzlich“ von spätmittelhochdeutsch plozlich, zu spätmittelhochdeutsch ploz = klatschender Schlag, hörbarer, dumpfer Fall, Stoss).
Der Gedankenstrich vermittelt innen und aussen. Nach der Stauung (markiert durch den Doppelpunkt) erfolgt die Entladung, die Erlösung.
Und kein Punkt am Schluss. Da ist kein Schluss, sondern nur Öffnung jenseits aller Dinge.
Sein jenseits aller Seienden, um wieder einmal ein bisschen zu heideggern.

Verwandt:

Plötzlich:
pochendes schweigen –
durchs dickicht der wörter
eine spur
in die stille

29. Juni 2021

Philosoph

In Ruhe sitzen und schauen
wie einer in der Ruhe sitzt
und schaut
wie andere schematisch
Schneisen hauen
um endlich
Zugang sich zu schaffen

(Nicht ausgeschlossen, dass der Eine zeitweilig auch zu den Anderen gehört.)

Der alte Gegensatz von vita contemplativa und vita activa. Der Philosoph als geübter Nichtstuer und Nichtsnutz. – Das Adjektiv „schematisch“ bezeichnet ein Vorgehen nach einem bestimmten Schema. Möglicherweise würde ich besser sagen „methodisch“, denn der ursprünglich griechische methodos bedeutet einen Weg auf ein Ziel hin. Beim Wort „Schneise“ assoziiert man leicht die „Schneise der Zerstörung“. Diese Assoziation ist oft sachlich begründet, finde ich.

23. Juni 2021

Ursprung und Gegenwart

Am Lebenshaus weiterbauen
mit reinen Händen
nahe am Ursprung der Zeit
ungeachtet des Alters.

Ein Gedicht schreiben
im Hasengeist
nahe am Ursprung der Stille
ungeachtet des Lärms.

Zur Analogie von Leben und Schreiben: In beidem gibt es unausweichlich ein Moment von Künstlichkeit. Menschliches Leben und menschliche Sprache sind nie nur natürlich. Wenn andererseits aber Leben oder Sprache sich in blosse Künstlichkeit verrennen, fehlt ihnen etwas. Man könnte sagen: dann fehlt ihnen Authentizität. Wirklich gegenwärtig sind sie nur, wenn sie die Nähe zum Ursprung bewahren. (Und ganz wahr wären sie, wenn sie aus dem Ursprung selbst entsprängen.)

Ist es richtig zu sagen, dass die Moderne, ungehemmter bzw. hemmungsloser als frühere Epochen, auf möglichst uneingeschränkte Künstlichkeit setzt (gesellschaftspolitisch aktuell z.B., indem das Konzept des „Gender“ entschieden gegen das Konzept des „Sexus“ propagiert wird)?

19. Juni 2021

„Vertraue darauf, dass für Geld, also im Käuflichen und gleichsam auf der anderen Seite der Strasse, Erlösung zu finden ist!“ – Die Zahnpasta stellt ein blendendes Lächeln in Aussicht, das Waschmittel fleckenlos leuchtende Wäsche, das Auto sowieso das Beste oder einen anderen Superlativ (oder dann lieber gar nichts). Sind solche Werbebotschaften nicht eigentlich Missionsbotschaften, die die unausrottbare Sehnsucht der Menschen, endlich den Übeln dieser Welt zu entkommen, klug bewirtschaften? Mit der Aura des magisch Aussergewöhnlichen versehen und so dem Bezirk des alltäglich Profanen enthoben, werden die Produkte quasi zu Heilsgütern, derer man (mit Griff nach Portemonnaie oder Kreditkarte) unkompliziert teilhaftig werden kann, heute – immer mal wieder – sogar einmalig günstig. – So gesehen leben wir in einer Welt, in der Religiosität wie kaum je zuvor allgegenwärtig ist. – Und vom Sockel herab grinst uns das Goldene Kalb dümmlich an.

16. Juni 2021

„Das huere All isch überall.“ – Ja, überall, aber nicht nicht über allem. Müsste das integrale Bewusstsein, wie es z.B. Jean Gebser oder – deutlich weniger differenziert – Ken Wilber als dem heutigen Entwicklungsstand des Geistes angemessen bestimmen, nicht in eine Dimension hinausragen, die kategorial jenseits des physikalisch, chemisch, biologisch beschreibbaren Kosmos und all seinen Emergenzen liegt? Also vertrauensvoll „im“ Raum- und Zeitlosen „schwimmen“? Aber dieses Raum- und Zeitlose nicht prärational-embryonal verstanden, sondern transrational-geistig. Nicht kindlich naiv, sondern erwachsen im besten Sinn des Wortes: dem All er- wachsen.

14. Juni 2021

Heute morgen, am Morgen nach dem Abstimmungssonntag (Agrarinitiativen, Trinkwasser-Initiative, CO2-Gesetz, Covid-19-Gesetz, Terrorismus-Gesetz), folgendes kurzes Gedicht geschrieben:

Von den Ufern aus

Was ist es, das aussieht
wie ein Vogel,
schwarzgefiedert
mit verzweifelt gerecktem Hals
und schlagendem Riesenflügel
dort an der Kante,
wo der Fluss
hinabstürzt ins Bodenlose
unter uns?

Das poetische Bild liefert keinen politischen Kommentar. Es zeigt sich so von beiden „Ufern“ aus, will sagen, es geht nicht um die Parteinahme dafür oder dawider. Es ist nicht „engagiert“, sondern verbildlicht eine Konstellation jenseits von Ja oder Nein.

So wenigstens kommt es mir vor.

8. Juni 2021

Nur noch das tun, das sagen, was nötig ist, um der goldenen Spur zu folgen! Vieles erweist sich als überflüssig. Also nur noch auf die eine Fährte achten, die von innen aufschimmert, aufschimmert im Gelände, das von unzähligen verkehrsreichen Strassen durchschnitten ist. Und längs der Strassen die unzähligen Informations- und Werbetafeln. Bei ihrem Anblick manchmal der Verdacht, das mit der goldenen Spur sei nicht mehr als Wunschtraum und Wahnvorstellung. Allerdings ein schmerzlicher Verdacht…

7. Juni 2021

Tarotkarte Eremit

Eremit sein. Genau hier, in der abgelegensten Mitte des Netzes. Hier, auf diesem stillen Fleck inmitten des Gewimmels, inmitten des Tumults meine Klause bauen, hier ein kontemplatives, stilles Leben führen, fromm werden und älter und älter werdend den Grossen Besucher erwarten, den Einzigen; die lange Weile nutzen und seine Sprache lernen, damit wir uns dann verstehen. – Fromm sterben.

Ein unmodernes Projekt?

5. Juni 2021

Gestern Morgen war ich joggen. Seit Jahren renne ich immer dieselben Runden, mal eine längere, mal eine kürzere. Der Weg führt grossenteils durch den Wald. Gestern ist mir etwas passiert, was in all den Jahren noch nie passiert ist: Auf dem Waldstück fegt plötzlich etwas von hinten so nahe über meinen Kopf hinweg, dass es beinahe die Haare berührt. Dann flattert ein Raubvogel zwischen den Bäumen weg. So ein frecher Cheib! denke ich, das muss ein Milan gewesen sein oder ein Bussard, als wieder ein Luftstoss meinen Kopf streift: wusch! ein zweiter Vogel, seitlich steigt er zwischen den Tannenstämmen hoch, und schon nach wenigen Schritten noch zweimal, kurz nacheinander, dieselbe Attacke. – Klar, ein harmloses Erlebnis, und leicht erklärbar: Vermutlich taxierten die Vögel mich als Gefahr für ihren Nachwuchs, der vor kurzem das Nest verlassen hat. (Im Netz lese ich allerdings von einem Fall, der weniger glimpflich abgelaufen ist: Bussarde verletzten einen Jogger mit ihrem Schnabel am Kopf, so dass Blut lief. Ich bin mit einer Warnung davongekommen.) Aber ein wenig unheimlich trotzdem, wie einen die Attacke hinterrücks aus heiterem Himmel treffen kann.

Ich denke in Trauer an HP.G., meinen Nachbarn, der letzte Woche von einem Motorradfahrer, der ihm aus dem Dunkel des Unvorhersehbaren in einer Kurve entgegenraste, von seinem Fahrrad in den Tod gerissen wurde.

4. Juni 2021

Authentische Sprache?

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzt sich die Einsicht durch, dass Wörter die Wirklichkeit der Dinge nicht abbilden. Sie sind kein Spiegel der Welt. Sie verlieren ihre mimetische Glaubwürdigkeit. Wörter haben ihre Bedeutung in Relation zu anderen Wörtern und im selbstverständlichen Gebrauch in den „Sprachspielen“ (Wittgenstein), in denen wir unsere alltägliche Praxis bewältigen. – „Bitte haben Sie noch einen Moment Geduld, in Kürze wird unser nächste freie Mitarbeiter für Sie da sein.“ – Eine sprachliche Mitteilung, ich weiss, was ich zu tun habe. Sprache ist ein funktioneller Bestandteil unserer Alltagspraxis. Aber kein Schlüssel zum geheimnisvollen Wesen der Welt?

Da kommt mir ein Gedicht in den Sinn, das Rilke 1914 geschrieben hat:

Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Siehe, wie klein dort,
siehe: die letzte Ortschaft der Worte, und höher,
aber wie klein auch, noch ein letztes
Gehöft von Gefühl. Erkennst du’s?
Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Steingrund
unter den Händen. Hier blüht wohl einiges auf; aus stummem Absturz
blüht ein unwissendes Kraut singend hervor.
Aber der Wissende? Ach, der zu wissen begann
und schweigt nun, ausgesetzt auf den Bergen des Herzens.

Das Ich, das hier spricht, hat „die letzte Ortschaft der Worte“ längst hinter sich gelassen. „Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens“ ist es zwar wissend, aber gerade im Wissen, im Erkennen bleibt nur das Schweigen. – Schweigen, weil an die Erfahrung seines Ausgesetztseins, Ungeborgenseins die Sprache nicht hinreicht. Und doch redet das Gedicht beredt davon – über eine Erfahrung, über die man nur schweigen kann.

Das ist paradoxe Rede.

So stelle ich mir authentische Sprache vor: als Rede über etwas, worüber man nicht reden kann. Genau darüber darf man nicht schweigen.

3. Juni 2021

Wenn authentisch zu sein bedeutet, dass der innere Mensch mit seinem äusseren Verhalten übereinstimmt, dann braucht es im Alltag aber auch andere Tugenden, damit eine Kommunikationssituation gelingt: etwa Sensibilität und Achtsamkeit für das Wesen und die Befindlichkeit der anderen Personen, die an der Situation beteiligt sind. Spontane Regungen, die nicht zum Gelingen der Situation beitragen, wären besser unter Verschluss zu halten, während solche, die den Erfordernissen der Situation entsprechen, Ausdruck finden sollen. Das heisst, in der Kommunikation mit anderen ist Authentizität nicht die absolute Tugend. Absolut genommen kann sie nämlich zu einer Form von Egozentrizität entarten. (Ich gebe hier einen Gedanken von F. Schulz v. Thun wider.) –

Soll eine Kommunikationssituation für alle Beteiligten möglichst glücken, muss man eben im obigen Sinn richtig (und das heisst: nur beschränkt wahrhaftig) kommunizieren.

2. Juni 2021

Kann Rede, die etwas erreichen will: strategische Rede, instrumentelle Rede, Rede, die nicht der Wahrheit, sondern einem eigenwillentlich gesetzten Ziel verpflichtet ist, authentisch sein? – Im Werk Jean Gebsers (1905-1973), dem viel zu wenig bekannten (deutsch-schweizerischen) Kulturtheoretiker, kommt der Ausdruck „wahrgeben“ vor – als komplementärer Pol zu „wahrnehmen„. So denke ich mir Authentizität: als sich wahr-geben. Sich wahrgeben als schöpferischen, Wahrheit schaffenden Prozess. (Ein künstlerisches Werk zum Beispiel als Resultat des Wahrgebens. Strategisches Verhalten und eine wissenschaftliche Theorie dagegen sind nicht wahr, sondern mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit richtig.)

31. Mai 2021

Kleine Kinder sind authentisch. Ihre natürliche Emotionalität findet unmittelbar Ausdruck in ihrem Verhalten. Schon bald wird das Kind angehalten, seine Emotionen zu kontrollieren und sozialverträglich zu leben. Nicht selten läuft der erzieherische Druck, die Gefühlsimpulse kontrollieren zu sollen, auf ihre Unterdrückung und Verdrängung hinaus. Dann ist die Person zwar eventuell gesellschaftlich angepasst, aber mit ihrer Authentizität und Natürlichkeit ist es vorerst vorbei, denn ein guter Teil ihrer spontanen Lebensenergie ist eingesperrt. Psychotherapeuten können darüber berichten, was die Verbannung der Gefühle aufgrund elterlichen, schulischen, im weitesten Sinne sozialen Drucks an Schaden verursacht. Anderseits wird ein Mensch, der nicht lernt, seine emotionalen Impulse zu kontrollieren, mehr oder minder schwere Probleme mit seinen Mitmenschen haben, möglicherweise sogar mit harten sozialen Sanktionen rechnen müssen. Genug davon!

Was mich interessiert, ist das Ideal der authentischen Persönlichkeit – und es ist klar, dass das kleine Kind mit seiner ungebrochenen, natürlichen, sozusagen präreflexiven Authentizität kein Vorbild für einen erwachsenen Menschen abgeben kann. Wie Tiere leben auch kleine Kinder gleichsam ausserhalb des gesellschaftlichen Kosmos mit all seinen Normen.

27. Mai 2021

Gestern beim Gruppen-Treffen auf Zoom wie üblich die Befindlichkeitsrunde zu Beginn. Vor allem eine Person hat dabei so etwas wie Authentizität ausgestrahlt. Sie sagte Dinge wie: „Mir geht es im Moment gut. Alles was ich in den letzten Jahren gelernt habe, hilft mir jetzt. Alles fügt sich zu einem Ganzen zusammen. Dafür bin ich dankbar.“ Indem sie das sagte, lächelte sie glücklich und ihr Gesicht strahlte wonnige Zufriedenheit mit sich und der Welt aus. Was sie sagte und wie sie es sagte, waren völlig kongruent und es war wohl diese fugenlose Übereinstimmung von nonverbalem und verbalem Ausdruck, die bewirkte, dass die Person insgesamt glaubwürdig oder eben authentisch „rüberkam“. Soweit klar und banal. –

Mir kommt ein Vers in Leonard Cohens „Anthem“ in den Sinn: „There is a crack in everything/ that’s how the light gets in.“ Ein Riss, durch den das Licht eintritt? Muss man sich Authentizität vorstellen als Licht, das durch diesen Riss hineinkommt. Woher kommt? – Sind wir aber nicht meistens heimlich darum bemüht, den Riss in uns, unsere Zerrissenheit, vor den Blicken anderer zu verbergen? Schamvoll zu verbergen und uns als möglichst kohärente, in sich geeinte, harmonische, authentische Persönlichkeit zu präsentieren?

26. Mai 2021

Heute Abend werde ich an einem Zoom-Meeting teilnehmen. Am Anfang wird es die übliche Befindlichkeitsrunde geben. Was werde ich da sagen? – Vielleicht: „Mir geht es soweit gut. Ich habe letzte Woche die zweite Corona-Impfung erhalten und bin froh, die Perspektive auf ein wieder freieres Leben zu haben. Im Übrigen freue mich mich, am Wochenende meinen Enkel zu sehen.“ Etc. Etc. Dieses und jenes in dieser Art mag noch dazukommen. Und die andern, das weiss ich aus Erfahrung, werden im ähnlichen Stil von sich reden. – Obwohl über diesen Befindlichkeitsrunden ja der Anspruch schwebt, dass die Leute etwas Authentisches über sich preisgeben, nähern sich die wenigsten Beiträge auch nur den Grenzen der Konventionalität, geschweige denn, dass sie sie überschreiten würden. Aber vielleicht ist es ja möglich, auch innerhalb der Grenzen strenger Konventionalität, authentisch zu sein, und Konventionalität und Authentizität stehen gar nicht im Widerspruch zueinander.

Dem amerikanischen Ex-Präsidenten Donald Trump hat man nachgesagt, er sei authentisch, wohl weil er den Eindruck erweckt hat, ständig völlig ungehemmt und frei von der Leber weg sein Inneres nach aussen zu kehren. Damit hat er allerdings schmerzlich oft Konventionen verletzt. Doch tatsächlich versteht man unter einem authentischen Menschen jemanden, der aus seinem Herzen keine Mördergrube macht, sondern seinen Gefühlen ungehemmt freien Lauf lässt und seinen Bedürfnissen unmissverständlich Ausdruck verleiht, und zwar unabhängig davon, ob dies in Übereinstimmung mit oder im Widerspruch zu den gesellschaftlichen Verhaltenskonventionen geschieht.

In den erwähnten Befindlichkeitsrunden geht es jedoch weniger darum, seiner Befindlichkeit unmittelbaren, ungefilterten emotionalen Ausdruck zu geben – das geschähe wohl am adäquatesten in einem expressiven Tanz oder Gesang – sondern in einer gewissen reflexiven Einstellung über sie zu sprechen. Und es ist diese reflexive Rede, die so durch und durch konventionell und langweilig daherkommt. Frage: Ist es nicht möglich, in der reflexiven Einstellung Authentizität zu vermitteln? In einer authentischen reflexiven Sprache zu reden?

24. Mai 2021

Bei Workshops, Kursen, Seminaren etc. ist es üblich, dass die Teilnehmenden zu Beginn in einer sogenannten Vorstellungsrunde etwas zu ihrer Person sagen. Name, Zivilstand, Wohnort, Beruf. Aber bei mehrmaligen Treffen besteht der erste Programmpunkt nicht selten in einer sogenannten Befindlichkeitsrunde, bei der man aufgefordert ist, der Gruppe Informationen zu seinem inneren Zustand, seiner seelischen Befindlichkeit zu liefern. – Wie das Private nach aussen kehren, ohne sich eine Blösse zu geben? Ich beobachte, dass viele – ich eingeschlossen – sich da meistens einer extrem schablonisierten und konventionellen Ausdrucksweise bedienen, um das Ritual zu bestehen. – Die Sprache, in der wir Gemeinsamkeit suchen und gelegentlich finden, ist eben nie die Privatsprache. (Wittgenstein behauptet, dass es letztere gar nicht gebe. Selbst wenn wir mit uns selber reden, sind wir in die gesellschaftlichen Konventionen eingeschlossen.)

Poesie besteht darin, die Sprache aus dem Gefängnis zu befreien.

6. Februar 2021

Eine gängiges Rezept liesse sich in die Formel fassen: Verzichte auf das wenige Wesentliche – dafür bekommst du unbeschränkt viel Unwesentliches. – Was für ein Deal!

2.Februar 2021

Ja sagen zur Welt, nein sagen zur Welt: entweder – oder. Es gibt Menschen, die die Welt trotz all ihrer Mängel im Grunde bejahen, vielleicht sogar lieben, weil sie – trotz allem – schön ist – und es gibt solche, die die Welt trotz all ihrer gefälligen Seiten im Grunde genommen ablehnen, vielleicht sogar hassen, weil sie ihnen nicht gut genug ist. – Leichter haben es die, die zur ersten Gruppe gehören. Sie sind privilegiert.

Oder ist ihre Haltung eine Folge ihrer Privilegiertheit?

28. Januar 2021

Das hat mir immer gefallen: Im Latein wird das Geschäft, die Arbeit, die mühevolle Tätigkeit als Unterbrechung der Musse gesehen. Sprachlich ist das „negotium“ (Geschäft) nämlich die Negation von „otium“ (Musse). Gerade umgekehrt wird bei uns die Freizeit als die Zeit verstanden, die – wenigstens im Prinzip – frei von Arbeit ist. Freizeit und Musse sind nicht unbedingt dasselbe. Die Freizeit dient der Entspannung vom Stress, dem Vergnügen, nicht selten der Inanspruchnahme eines sogenannten Freizeitangebots, mithin einer Variante des Konsums. Musse meint die Zeit, in der man sich in Ruhe einer von eigenen Interessen geleiteten, vorzüglich schöpferischen Tätigkeit widmet. – Von den äusseren Umständen her ist das Alter zu einem Leben in Musse prädestiniert. Aber Musse will gelernt sein, dünkt mich. Während der dreieinhalb Jahrzehnte Arbeitsleben ist es in Fleisch und Blut übergangen, dass es primär auf Leistung ankommt, Leistung, die mehr und weniger zuverlässig mit materieller und sozialer Anerkennung belohnt wird. Das heisst: Leistung ist gut und mehr Leistung ist besser usw. So jedenfalls flüstert der innere Einpeitscher. Musse jedoch gedeiht in Ruhe, einer Ruhe, für die innere wie äussere Orte rar sind. Selbst jetzt – zu Corona-Zeiten, wo es zum Beispiel am Himmel über dem Haus bedeutend ruhiger geworden ist – stelle ich fest: Ruhe ist mehr als bloss Abwesenheit von Lärm.

22. Januar 2021

Was uns Corona lehrt: Die erbarmungslose Manipulation der Natur hat manchmal auch ihre Grenzen.

19. Januar 2021

An einer Betonwand steht in Sprayschrift „nasty bitches“. Letzthin stand darunter eine verwaiste Einkaufstüte aus Propylen mit der Aufschrift „eat natural“. Für Tüten aus diesem Material wird im Netz unter dem Slogan „From Nature Back to Nature“ geworben. Da kommt mir in den Sinn: Manchmal fallen mir Gruppen von Kids, ich meine Jugendliche, auf, die untereinander Englisch sprechen. Dazwischen einige Sätze auf Schweizerdeutsch. – Ich bin nicht sicher, ob da verstanden ist, was vor sich geht. Oft fällt die Präsenz des Englischen in unserem Alltag gar nicht mehr auf. Wenn es über Nacht plötzlich so viel Chinesisch wäre, würden wir uns vermutlich beunruhigt fragen.

Vor vielen Jahren habe ich im Gandhi-Museum in New Delhi einen Satz gelesen, der mir dem Sinn nach in Erinnerung geblieben ist: Es ist gut die Fenster des Hauses weit aufzumachen, damit frischer Wind hineinkommt. Aber man muss aufpassen, dass einen der Wind nicht aus den eigenen Schuhen hebt.

6. Januar 2021

Am Radio erzählte eine Frau heute am Radio, ihr Kopf sei sieben Tage in der Woche 24 Stunden bei ihrem Job. Aber das sei kein Job, sondern ihr Leben. – Seltsam, bei mir kommt das so an, als würde da eine Art Ideal verkündet

5. Januar 2021

Dieses Jahr werde ich 70. Der grösste Vorteil des Alters scheint mir, dass der Zwang zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verwertbarkeit der eigenen Person abnimmt. Man muss nicht mehr so nützlich sein. Der Zwang zur ständigen Arbeit, die in früheren Gesellschaften sowieso nur den Sklaven betraf, lässt nach. Die Pensionierung ist der späte Beweis dafür, dass Arbeit schliesslich frei macht. Aber frei wozu? Vielen bereitet die Vertreibung aus dem Arbeitscamp bislang unbekannte Not. Was ist denn von einem nach jahrzehntelanger Selbstinstrumentalisierung übriggeblieben? Eine bedeutsame Frage in einer Welt, in der nicht alle das Privileg beziehungsweise die Fähigkeit haben, sich zu Tode zu arbeiten! –

Neben der vita activa, dem aktiven Leben, gibt es schon in der Antike das Modell der vita contemplativa, das nur in der Musse, der arbeitsfreien Zeit gedeiht. Es gibt viele Stimmen in der Geschichte der Philosophie, die den Wert des kontemplativen Lebens sogar höher einschätzen als den des aktiven, engagierten Lebens.

4. Januar 2021

„Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen“. So lautet einer der berühmtesten Romananfänge der neuen deutschsprachigen Literatur. Es ist der erste Satz von Uwe Johnsons Roman «Mutmassungen über Jakob», erschienen 1959. Ich kann mich erinnern, dass wir in meiner Schulzeit vor mehr als einem halben Jahrhundert selbstverständlich auch immer über die Gleise gegangen sind, um das hintere Perron zu erreichen. Heute Morgen ist mir das blaue Schild am Bahnhof aufgefallen, auf dem steht: „Überschreiten der Gleise verboten“; darunter dasselbe auf Französisch, Italienisch, Englisch. Geht uns nicht etwas durch die Lappen, wenn wir nur denken, unsere Einrichtungen seien seither sicherer geworden?

10. November 2020

Gestern beim Einkauf ist mir die grossflächige Werbung von Emmentaler Switzerland aufgefallen. Sie verspricht für den „neuen“ Emmentaler AOP URTYP® ein urgewaltiges Geschmackerlebnis. Die Urgewalt der Natur als Verkaufsargument setzt die Vorstellung voraus, die Natur sei gebodigt und unter Kontrolle. Zeigt sie sich wieder einmal als Urgewalt wie jetzt in Gestalt von Covid 19, verbreitet sie Furcht und Schrecken. Wie eh und je.

8. November 2020

Heute morgen beim Joggen zwei Krähen begegnet. Beide sehr schwarz. Als sie mich bemerkten, sind sie davongeflogen. Wenn sie eines Tages nicht mehr vor mir fliehen, bin ich ein gutes Stück weiter. Oder müsste ich schreiben: sind wir ein gutes Stück weiter?

  1. Werner Neck zu Romane

    Zu Stockers Stimme Er ist noch einmal davongekommen. Armand Stocker, der sich mit Drax nicht anfreunden will, mit einem Unternehmen,…

  2. Lieber Peter Ich möchte mich auf deinen spöttischen Kommentar hin etwas genauer erklären: Im Gegensatz zu den «nicht-menschlichen Tieren» (C.…

  3. Ein unübertreffliches Lob auf Pflicht, Autonomie und Freiheit. Schön, dass wenigstens ein Schriftsteller in dürftiger Zeit diese drei göttlichen Worte…

  4. Lieber Johannes, danke für deinen Kommentar. Ich finde das Bild auch „unheimlich“ – un-heimlich. So als könne man sich in…

  5. Lieber Andreas Ein beeindruckendes Gedicht, ziemlich unheimlich und bedrohlich. Aber es gefällt mir trotzdem. Sind wir es, die in den…

  6. Lieber Andreas Etliche Deiner Erzählungen in den Fesseln wecken Erinnerungen an die Schreibwerkstatt. Eine allerdings steht ausserhalb, und sie hat…

  7. „Fesseln“: Kommentar zu einigen Geschichten: 1. Blautauben oder das Schöne Gute Wahre Dieser Text hat mich vom Aufbau her sehr…

  8. Lieber Andreas, schwierig ist es zu Per Meerin einen Kommentar zu verfassen. Erst muss man sich registrieren und dann einen…

  9. Sehr anregend, deine Thesen! Sie würden meinem Künstlerfreund gefallen (was kein Argument ist, lediglich eine Festellung), der sich ganz auf…

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