Du musst dein Leben ändern!

Lasst uns über Bérénice sprechen, eine junge, vielleicht zu junge Frau, ein bisschen pummelig, ein bisschen schlampig, die sich eines Tages beim verträumten Studieren von Modekatalogen in eines der Models vergafft.
Es fällt ihr wie Schuppen von den Augen: So, genau so, sollte man also aussehen: Blondhaar windverwirbelt, grüne Katzenaugen, kühn hervor gewölbte Backenknochen, der Kussmund mit leicht geschürzter Oberlippe, und die Brüste, die sich unter der sandfarbenen Leinenbluse wölben, sanft gerundete Dünenhügel. Und wie schlank ist sie, Jesses! schlank wie eine Nixe!
Wie muss das Leben heftig sein in einem solchen Körper!
Bérénice schneidet die Abbildung des Models aus der Zeitschrift. Es ist die April-Ausgabe der Zeitschrift Shape – Aktuelle Informationen für die moderne Frau – und piekt die Seite über dem Küchentisch an die Wand.
Bérénice ist klar: Du musst dein Leben ändern. Deshalb lässt sie sich die sandfarbene Leinenbluse mit der zugehörigen lila Leinenhose per Post kommen. Aber weder in der einen noch in der andern bringt sie ihre Pfunde unter. Wenn sie ihre Pasta in sich hineingabelt, sieht die Nixe von nun an auf sie herab, vorwurfsvoll oder bloss spöttisch. Bérénice schwankt kauend zwischen den zwei Varianten – und ringt sich zu einem weiteren Entschluss durch: 15-20 Pfunde müssen weg, sonst wird sie die sandfarbene Bluse nie tragen können, nicht zu reden von der lila Strandhose.
In der folgenden Woche lässt sich Bérénice – nachdem sie vorher noch einmal am Modell gründlich Mass genommen hat – ihre Haare auf blond umfärben und kunstvoll windverwirbeln. In einem Kosmetikstudio erlernt sie die Kunst, die Backenknochen je nach Bedürfnis mongolisch kühn oder wienerisch madlhaft zu schminken. Vor dem Spiegel in ihrer Eineinhalbzimmerwohnung übt sie blauäugig den grünen Katzenblick von unten schräg nach oben und von oben schräg auf die Seite. Täglich gibt es Augenblicke, wo sie das Gefühl überkommt, auf dem richtigen Weg zu sein und sich ihrem Ziel zügig anzunähern – und dann wieder Stunden tiefster Verzagtheit. Das pièce de résistance sind nämlich ihre Pfunde. Die Nixe an der Wand flüstert ihr Menu-Vorschläge zu, die ihr wie sadistische Zumutungen vorkommen. Aber nachdem sie ein paar Tage versucht hat, die Anweisungen in den Wind zu schlagen, ergibt sie sich ihnen. Es bricht die Zeit der geräucherten Forellenfilets auf Salatblatt mit einem Klacks Meerrettichschaum und drei Kapern an, die Wochen mit Magerquark auf Schwarzbrotschnitten, abwechslungsweise bestreut mit Schnittlauchstückchen oder belegt mit Gurkenscheiben. Sie hungert; ihre spitze Nasenspitze wird spitzer und spitzer, während die Nixe unbeirrbar auf einer sanft gerundeten Nase mit zierlichen Sommersprossen über dem Nasensattel beharrt. Bérénice bringt den Gesichtschirurgen soweit, ihre Wünsche zu verstehen und ihr sogar vorzuschlagen, auch gleich die Ohren ein bisschen näher an den Kopf legen zu lassen.
Nach sieben Monaten ist sie nicht wiederzuerkennen. Per Zufall – wunderbarer Zufall! – erfährt sie gerade noch rechtzeitig, dass bei der Präsentation der Herbstmode im grössten Modehaus der Stadt ihre Nixe leibhaftig auf dem Laufsteg zu sehen sein wird. Das kommt ihr wie ein Entgelt für all ihre Anstrengungen vor, sich dem echten Leben zu nähern.
Vor der Show darf sie nichts essen, so diktiert es die Stimme von der Wand herunter. Erst nach der Show zwei halbe Karotten, in kleine Stücke geschnitten, und eine Scheibe Knäckebrot mit Sesam. Hunger macht nämlich schön! Hunger macht nämlich stark! Sie schlüpft jetzt in die sandfarbene Bluse und die lila Leinenhose, die ihren Körper widerstandslos in sich aufnehmen. Ihre Brüste wölben sich unter der sandfarbenen Leinenbluse wie sanft gerundete Dünenhügel. Aber kaum eine Sekunde unbeaufsichtigt, entwischt ihre Phantasie zu einem gehäuften Teller Makkaroni mit rösch gebratenen Schweinswürsten. Zu Griesspudding an Himbeersauce oder pinienkerngespickte Brownies oder…, doch die Nixe von der Wand herab mahnt unerbittlich zur Ordnung. Bérénice zwingt sich, an die in Aussicht gestellten Karottenhälften und das Knäckebrot zu denken und schminkt sich die Backenknochen vorbildmässig kühn. Die Ohren liegen an! Das Haar windverwirbelt. Nur die neue Nase ist noch nicht ganz verheilt. Dann ist es Zeit, zur Modeschau aufzubrechen. Sie geht schwingenden Ganges und klopfenden Herzens zum Modehaus.
Dann kommt der Moment: Sie sieht ihre Nixe leibhaftig über den Laufsteg schweben. Eine elementare Kraft reisst sie aus dem Zuschauergestühl hoch und schleudert sie nach vorn zu der göttlichen Gestalt, die da in unerreichbarer Erhabenheit im Scheinwerferlicht wandelt. Und wie eine böse, hässliche Kröte – wir berichten es mit Erleichterung – ist Bérénice in einem Sprung bei ihr und schlägt mit finaler Kraft auf sie ein.

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