Yuchi – eine Indianerstory

Dieser Yuchi-Mist beginnt mich langsam aber sicher zu stressen. – Ursprünglich habe ich ja eine Ausbildung als Puppen- und Spieltiermacher. Nach Abschluss der Lehre habe ich ein paar Jahre bei der Firma ITSBETTER mechanische Stimmen in Spielzeugaffen eingebaut, aber die Firma machte Konkurs und das Lager mit meinen Affen wurde nach Hongkong verschachert. Ca. 3700 Stück. Persönlich war das ein harter Schlag. Ich habe dann etwas Neues im Bereich Plüschtierproduktion gesucht, aber wider Erwarten war das gar nicht so einfach. Tagelang habe ich mich durch Stellenbörsen gegoogelt. Ergebnis null. „Sorry, Ihre Suche hat leider keinen Treffer ergeben.“ – Vielleicht sind Spieltiere nicht mehr so beliebt wie früher, wo jedes Kind seinen Teddy Bams oder sein Wuzi Wildschwein hatte. Heutzutage zocken ja schon Dreikäsehoch am Computer, da schwindet naturgemäss die Nachfrage nach sprechenden Affen. – Natürlich beginnst du als Arbeitsloser an dir selbst zu zweifeln. Das ist ganz normal. Deshalb habe ich an der SELF – Fachschule für praxisorientierte Erwachsenenbildung den Crashkurs „Selbstbewusstsein“ gebucht; da erhält man in sechs Abenden Gehirntraining eine Super-Selbstmotivation eingepflanzt. Nach der Methode Dr. Luzi Storch, falls das jemand interessiert. Jedenfalls ist mir schon bald klar geworden, dass ich nun selber aktiv werden muss – und da an der SELF auch Sprachkurse für teils extreme Sprachen angeboten werden, dachte ich mir: Jetzt bietest du mal einen Kurs in Yuchi an. Das ist doch sicher eine Marktlücke. Die Yuchi sind Prärieindianer – irgendwo im Hinterland von Oklahoma, USA. Bevor ich mich der Puppen- und Spieltiermacherei zuwandte, hatte ich nämlich ein paar Semester Ethnologie studiert – und da war einmal die Rede von diesem Indianerstamm, erinnere ich mich. Es soll zurzeit noch drei oder vier Yuchi-Veteranen geben, die der Yuchi-Sprache mächtig sind, einer hinfälliger als der andere. Das heisst, die Sprache ist im Prinzip bereits tot. – Gut für dich, sagte ich mir, da hast du rundum freie Hand. Da wird nicht so rasch einer daherkommen und dir dreinfunken.


Die Sekretärin des SELF informierte mich vorbildlich unaufgeregt, ich könne den Kurs erteilen, falls sich genügend Interessenten anmeldeten, was sie bezweifle. Aber nach Ablauf der Anmeldefrist hatten sich tatsächlich zwei Schwestern, Rosi und Lili Pfahl, beide über siebzig, für meinen Yuchi-Anfängerkurs eingeschrieben. Sie waren auch ohne weiteres bereit, den erhöhten Kurstarif für Kleinstgruppen auszulegen. Das SELF zeigte sich kulant, indem es die wöchentliche Doppellektion Yuchi von Dienstag- auf Donnerstagabend verlegte, weil die Schwestern Pfahl sich seit vierzehn Jahren am Dienstagabend mit einer Cousine zum Halmaspielen treffen.


Ich startete meinen Kurs ganz praxisnah mit dem bei den Yuchi üblichen Begrüssungsritual: Stösst ein Yuchi auf einen anderen, zupft er ihn beidseitig am Ohrläppchen und spricht: Xamanohoana aloha ny max’xoandro? (wörtlich übersetzt: Welcher Art Schatten vor der Sonne bist du?). Der so Angesprochene entgegnet: xana‘raxo – plus Name, also etwa: Xana‘raxo Rosi Pfahl. – Ich hatte mir vorgenommen, das Geschwisterpaar schon in der ersten Stunde mit ein paar meiner substanzielleren Vokabel-Kreationen des Yuchi-Grundwortschatzes zu konfrontieren (Büffelherde, Donnertrommel, Marterpfahl etc.). Aber so weit kam ich längst nicht, denn das Ohrläppchenzupfen erwies als durchschlagender Erfolg; die Schwestern konnten nicht genug davon bekommen und kicherten dabei wie exaltierte Schulmädchen. Aus didaktischen Gründen sah ich mich jedoch alsbald genötigt, die Anredeformel „Xamanohoana aloha ny max’xoandro?“ einer radikalen Kürzung zu unterziehen, denn sie zeigte sich unter den gegebenen Umständen als nicht bewältigbar: Rosi war schwerhörig und gewöhnt, Informationen aus der Aussenwelt von ihrer Schwester direkt ins Ohr geschrien zu bekommen. Aber wenn Lili schrie, vermasselte sie ganze Silbenblöcke, was mich – Haarspalter, der ich in solchen Angelegenheiten nun einmal bin – zu endlosen Korrekturschleifen anstachelte; schliesslich fand ich mich aber erschöpft damit ab, dass sich die beiden Damen beim Ohrzupfen lediglich Xama zuriefen (wörtlich übersetzt „welcher?). Zugegeben, das ist ein Kompromiss, aber als Pädagoge darf man sich da nicht auf seinen Standpunkt versteifen, finde ich. Jedenfalls gelangte ich so erst in der vierten Lektion zu Büffelherde (dan‘xiana), Donnertrommel (xam‘ponga) und Marterpfahl (hazompahangiri‘firiana). Auch in der Ausgestaltung der Konjugation und der Deklination nahm ich selbstredend Rücksicht auf das Alter meiner Schülerinnen; so verzichtete ich – aus pädagogischen Erwägungen – auf die ursprünglich vorgesehenen 14 Fälle und führte schliesslich einen einzigen Casus ein, nämlich zur Unterscheidung von Essbarem und Nicht-Essbarem, was Lili und Rosi mit Zungenschnalzen quittierten: So heisst zum Beispiel die Taube „voromaha‘ilala“; „ich sehe eine Taube“ heisst „xahita voromaha‘ilala’q“, wobei die Endung „q“ eben signalisiert, dass jetzt von einem essbaren Weltausschnitt die Rede ist. Dieser q-Fall führte zu überraschend hitzigen, geradezu philosophischen Diskussionen über Hunde, Schnee, Savannengras und Fledermäuse usw. Mit q oder ohne? – Natürlich hatte ich mit meinen Pfahl-Schwestern ein Bombenschwein (dachte ich damals wenigstens noch): Hingebungsvoll büffelten sie von Donnerstag zu Donnerstag Vokabeln und Grammatik, mit ihrer kindlichen Neugier entfachten sie in mir – ja was war es? – so etwas wie einen linguistischen Furor, glaube ich; bald war ich Tag und Nacht mit nichts anderem beschäftigt als dem Aufbau der Yuchi-Welt, in dem sich Rosi und Lili unschuldig staunend tummelten wie die ersten Menschen im Garten Eden. Ich empfand dabei eine geradezu göttliche Befriedigung, wie ich sie bei meiner Tätigkeit mit den Spielzeugaffen niemals erfahren hatte. – I simply loved my job.


Jetzt aber, gegen das Ende von F-5, des fünften Fortgeschrittenenkurses, haben die Ereignisse begonnen, eine kritische Wendung zu nehmen. Ehrlich, mir ist der Schreck in die Glieder gefahren, als Lili vor einer Woche vorgeschlagen hat, Lee Vest, dem jetzigen Chief der Yuchi-Indianer in Oklahoma, zu schreiben und ihn zu bitten, uns den Kontakt zu einem der Yuchi-Sprach-Veteranen zu vermitteln. Ich habe ihr postwendend zu bedenken gegeben, dass es voreilig wäre, bereits jetzt den Sprung ins kalte Wasser des sprachlichen Ernstfalls zu wagen, und dass überdies möglicherweise die Sprach-Greise dem klassischen Hoch-Yuchi, wie ich es lehre, gar nicht mehr gewachsen wären, denn der Unterschied zum Vulgär-Yuchi draussen in den Hügeln sei halt doch signifikant. Kaum war diese Klippe umschifft – das war wie gesagt letzte Woche – finde ich vor zwei Tagen einen Brief in meinem Korrespondenzfach am SELF. Da fragt mich ein Professor Schönemann von der Uni Rostock an, ob ich bereit sei, über „Die Weltanschauung der Yuchi-Indianer im Spiegel ihrer Sprache“ zu referieren – im Rahmen einer Vortragsreihe über bedrohte Sprachen. Und gleichen Tags erreicht mich ein email von der Yuchi-Tribe-Organisation in Okmulgee/Oklahoma, mit der Einladung, meine Yuchi-Sprachbiographie in einem Buch niederzulegen. Die Stammesorganisation in Okmulgee wäre bereit, die Verlags- und Vertriebskosten des Werks zu hundert Prozent zu übernehmen. – Ehrlich, langsam wird mir da mulmig. Was wird da eigentlich hinter meinem Rücken gespielt? Natürlich habe ich die Pfahl-Schwestern im Verdacht. Das Schlimmste aber ist, dass ich immer öfter gar nicht mehr recht mitkomme, wenn Rosi und Lili munter ihr Yuchi zwitschern, weil ich meine eigenen Vokabeln vergesse. Und wenn ich dann radebrechend eine Ausrede für meine Verständnisschwächen stammle, huscht ein Lächeln über die erhitzten Gesichter meiner Schülerinnen – mir scheint, ein scheinheilig maliziöses! – So sehr ich ja meinen Job im Prinzip liebe, in solchen Augenblicken hasse ich meine Arbeit – und ich sehne mich zurück nach meinen Spielzeugaffen, die zuverlässig nur von sich gaben, was ich ihnen eingesetzt hatte

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