Eine tiefere Statt – Essay

Der Ort steht weit oben in der Rangliste: Die Lage ist einfach genial. Europas angeblich älteste Standseilbahn führt vom Seeufer hinauf zur Hotel-Terrasse, von wo aus man eine atemberaubende Sicht auf den See und die weltberühmten Berge hat. Selbst in China ist das bekannt. Als wir oben im Restaurant ankamen, herrschte längst emsiger Betrieb. Es war früher Nachmittag, das Service-Personal zirkulierte mit erhobenen Tabletts zwischen den vollbesetzten Tischchen, an denen man sich an puderzuckerbestäubtem Gebäck und vorgezogenen Zvieri-Plättchen abarbeitete. «Abarbeitete» sage ich und erwecke mit dieser Wortwahl möglicherweise gleich den Verdacht, dass hier ein Zyniker spricht. Dagegen will ich einwenden, dass der Zynismus in der Situation selbst liegen könnte, indem nämlich das zarteste Individualerlebnis durch die Multiplikation mit einem dreistelligen Faktor zu etwas seriell Unpersönlichem verkommt. Da wirkt unbarmherzig das Gesetz, dass Qualität durch Quantität korrodiert, und wo das Persönliche korrodiert ist das Maschinelle nah.  – Die Betriebsamkeit des Ortes entfaltet einen beträchtlichen Wirkungsradius. Der hinter dem Hotel und dem zugehörigen Terrassenrestaurant angelegte Naturpark samt chemikalienfreiem Naturschwimmbad, ja selbst die ultimative Attraktion (der über 14 Stufen zum 500 m tieferliegenden See hinunterrauschende Wasserfall) erscheinen mir als Stationen eines vor-strukturierten, idiotensicher markierten Besichtigungs- und Erlebnisparcours. Nachdem wir ihn in einem Pulk überwiegend asiatischer Gäste bewältigt hatten, schauten wir von Liegestühlen aus eine Weile dem kreischenden Treiben um den Naturpool zu. Als ich aufstand, klebte – flachgewalzt mit exzentrisch gezackten Ausläufern – ein rosa Kaugummi im Stoff meiner Hose. Ein Liebesgruss dieses exquisiten Ortes an mich! Zugegeben, die zwischen uns herrschende Disharmonie, ja Animosität liegt nicht nur an ihm, sondern auch an mir. Man sollte da gar nicht von Schuld reden.- Wir haben es miteinander einfach nicht geschafft …

Es gibt ein bekanntes Gedicht von Gottfried Benn mit dem Titel Reisen (1950)

Meinen Sie Zürich zum Beispiel
sei eine tiefere Stadt,
wo man Wunder und Weihen
immer als Inhalt hat?

Meinen Sie, aus Habana,
weiß und hibiskusrot,
bräche ein ewiges Manna
für Ihre Wüstennot?

Bahnhofstraßen und Ruen,
Boulevards, Lidos, Laan –
selbst auf den Fifth Avenuen
fällt Sie die Leere an –

Ach, vergeblich das Fahren!
Spät erst erfahren Sie sich:
bleiben und stille bewahren
das sich umgrenzende Ich.

Bleiben, Stille bewahren, den magischen, erfüllenden Ort findest du allein in dir selbst. Es ist sinnlos, ihn ausserhalb deiner zu suchen. So Benn. – Dieser Meinung bin ich nicht. Ich glaube, es ist wichtig, die eigenen vier Wände, ja überhaupt die Umgrenzung des Ichs zu verlassen, um bei sich anzukommen. Aber die flackernde, durch Werbebilder unruhig illuminierte Realität ist noch lange nicht die Wirklichkeit.  

Eigentlich bin ich ja ständig auf der Suche nach Orten, die sich mir schenken, die sich mir öffnen.
Dieses Sich-Öffnen geht einher mit Stille, geschieht in der Stille.
Der Ort öffnet sich mir, doch ich bin am Prozess intensiv beteiligt.
An der rhythmischen Harmonie zwischen mir und der Welt.
Es ist glaub ich ein archaischer Zustand. Ein primitiver Zustand.
Der Ort fällt aus dem Netz des Profanen heraus, wird zum Ort der Stille, zum Ort der Andacht, zu einem – wagen wir das Wort – poetischen Ort, einem lyrischen Ort, einem ein Wort-Ort.
Reisen als Erfahrung des Anderen. Als Pilgerreise.
Mitten im Getümmel des Grossstadtverkehrs, im Geklirr des Kantinenbetriebs kann die redende Stille einbrechen. Sie spricht mit eigener Stimme, einem eigenen Rhythmus. Beglückend!
Normalerweise sind Orte verschlossen, verdeckt, durch den umfassenden Text, durch den wir die Welt kommentieren, sie uns für unseren Gebrauch zugänglich machen, sie in den Kosmos unserer Weltorientierung eingemeinden. Der Reiseführer lotst mich von Ort zu Ort und gibt den Text ab, der mir das Gesehene erklärt. Gerede ohne Ende. 

Man bewegt sich auf Strassen, auf breiten, oft befahrenen oder begangenen. Hauptstrassen, Autobahnen. Sozusagen Bewegungsachsen des Mainstreams. Sie führen alle ins Zentrum des Netzes, das über dem Leben liegt (und alles in konventionelle Zeichen verwandelt)
Die Bewegungen auf den grossen Strassen sind streng geregelt.
Und der Asphaltbelag garantiert den reibungsarmen Ablauf. Verkehrs- und Werbeschilder sagen, wo’s lang geht. Sie ermöglichen, schnell und mit geringem Aufwand das Ziel zu erreichen, das auch an einer der Strassen liegt.

Orte, die ich suche, sind ohne Vergleich. Sie sind nicht schöner oder weniger schön als andere. Sie brauchen überhaupt nicht schön zu sein. Schönheit ist keine unverzichtbare Kategorie. Aber sie sind einmalig, denn es sind Augenblicks-Orte. Singulär. Raum und Zeit verschmelzen ineinander. Kunsthistorische Vergleiche, Beobachtungen, geographische Verwandtschaften, kulturelle, ethnologische Beziehungen spielen eine untergeordnete Rolle. Oft haben sie mit der eigentlichen Bedeutung des Ortes gar nichts zu tun.

Der Mond steht halb am Himmel,
ich komme von einem Tee,
die Luft ist kühl, die Lichter glänzen,
als könnte etwas geschehn
im festlichen Funkeln dieser Nacht.
Ich öffne die Hände und atme aus –
die Lichtsignale wechseln die Farbe.

Solche Orte sind nahe an der Quelle des Lebens. Insofern ist jede Reise eine potentielle Reise zu den Quellen des Lebens. – «Hallo, jetzt spuckst du aber grosse Töne!» – Ich weiss, aber fühlt es sich an: Quelle des Lebens. Zugegeben, sie sind schwierig zu finden, jene Orte, denn sie sind auf keiner Landkarte eingezeichnet. Und kein Reiseführer kennt sie.
Ja, die Orte, die die Reiseführer kennen, sind höchstwahrscheinlich gerade keine solchen Orte. Die touristischen Orte sind meist armselige, von unzähligen Menschenblicken ausgelaugte, von Kommentaren und Erklärungen abgefingerte Orte, innerlich ausgehöhlt, nur noch schöne Kulissen. Mumien. Es sind eigentlich Mausoleen. Aufbewahrungsstätten von Verbrauchtem. Sie liegen ausnahmslos an den grossen Strassen. Tourismus ist Totenkult.

Der inspirierende Ort erschliesst sich einem nicht über seine topische Lesbarkeit, zu der selbst die Stimmung, die herrschende Atmosphäre noch gehört. Es bedarf einer enthaltsamen Wahrnehmungshaltung, um diese heiligen Orte überhaupt wahrzunehmen. Du selbst kannst dich auf das Ereignis nur vorbereiten, indem du achtsam bist, indem du dich öffnest.
Herstellen lässt sich nichts. Es ist eine Offenbarung; sie berührt über alle Sinne deinen Geist.
Der heilige Ort ist ein sprechender Ort, ein geistiger Ort und wenn es eine stinkende Toilette wäre. Der Geist weht, sagt man, wo er will. Es ist mehr das innere Auge als das äussere, das sie sieht. Der Ort, von dem ich spreche, lässt sich deshalb auch nicht in ästhetischen Kategorien fassen. Höchstens andeuten. Er wird zu einer Art Äusserstem, zu einer Spitze, die das Andere berührt: Es ist als hätt der Himmel die Erde still geküsst, sagt Eichendorff, ausgesetzt auf den Bergen des Herzens, sagt Rilke. Dieses Ausgesetztsein ist ein Kennzeichen der Situation. Selten ist dieses Ausgesetztsein real gefährlich.  Es ist die lyrische Situation. Reisen, wie ich es meine, ist das Suchen nach Orten der lyrischen Inspiration. Der Mut, sich auszusetzen, ist die notwendige Bedingung dafür, solche Orte anzutreffen, denn das Sicherheitsnetz verdeckt sie zuverlässig. Im weglosen Gelände ist die Chance grösser, auf sie zu stossen, aber zuweilen finden sie sich im Stossverkehr in der Innenstadt.
An einem solchen Ort angekommen zu sein ist ein grosses Glück. Eine Erfüllung. Ein Geschenk.
Anderseits ist es nicht so, dass die Topik des Ortes, seine Verortung im globalen Netz, gar keine Rolle spielte (sonst könntest du ja zu Hause bleiben), nein, du musst raus, du musst von zu Hause weg, du musst in die Fremde, aber du musst durch das Fremde hindurch, um wirklich zu Hause anzukommen. Dann wird die Topik des Ortes in ein Ganzes eingeschmolzen, sozusagen in ein mögliches Gedicht.

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