Kann denn Wohnen Sünde sein? – Essay

Eine Wohnung beziehen. Die Tür hinter sich zuziehen. Den Schlüssel im Schloss drehen. Wir wohnen in festen Häusern, konstruiert aus Beton oder Backstein oder zumindest aus stabilen Holzkonstruktionen. Keine provisorischen Hütten. Wir sind keine Nomaden mehr. Unsere Häuser sind festgefügte, im Grundbuch eingetragene Einrichtungen an ordentlichen, meist asphaltierten Zugangswegen, nummeriert, mit Briefkasten und Garage, Namenschild unter dem Klingelknopf. Isoliert gegen Temperatur – und andere Immissionen von aussen, gegen den Wärmeverlust von innen. Je mehr desto besser. Feuerversichert. Hausratversichert. Ein Dach über dem Kopf, eine Wohnung zu haben, gehört nach Maslow zu den Grundbedürfnissen des Menschen.
Etymologisch stammt das deutsche Verb „wohnen“ von Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch „wonen“ mit der Bedeutung „sich aufhalten, bleiben, (ver)weilen, ausharren, wohnen“. – Althochdeutsch „wonunga“ (9. Jahrhundert) bezeichnet das Bleiben, den Aufenthalt, die Gewohnheit. 
Der Alltag der Wohner ist geprägt durch Gewohnheiten, Gewöhnung, verhältnismässige Sicherheit, das Leben in festen Bahnen, Regelmässigkeit, Schutz vor den Unbilden des Lebens. Und das Sein bestimmt das Bewusstsein.
Kann denn Wohnen Sünde sein? – Ich habe diese Frage vor langem als Sprayinschrift an einer Hausmauer gelesen. Sie ist mir hängengeblieben. Sie war vermutlich ironisch gemeint – wie ihr Vorbild „Kann denn Liebe Sünde sein?“ im Schlager von Zara Leander. Denn wieso um Gottes Willen soll Wohnen Sünde sein? Wohnen ist elementar, auch wenn der Wohnungsmarkt öfters Situationen schafft, die es ziemlich schwierig machen, dieses Grundbedürfnis zu stillen. Aber Sünde?
Die Kategorie «Sünde» gehört zum religiösen Vokabular, das in der modernen Welt schwer mit Sinn zu füllen ist. Theologisch gesehen ist die Sünde der Zustand des von Gott getrennten Lebens. Das Konzept wurzelt in der Vorstellung einer fundamentalen Verderbtheit der menschlichen Natur (Erbsünde), in der die Gottesebenbildlichkeit des Menschen zerstört wurde. Der natürliche Mensch hat den Hang, so das christlich-religiöse Verständnis, sich seine Existenz fern von Gott einzurichten. Bei Hugo von St. Victor, einem mittelalterlichen Theologen aus dem 12. Jahrhundert, heisst es zum Beispiel, es gebe zwei Arten von Leben, das eine körperlich, das andere geistig; das eine, durch welches der Körper aus der Seele lebe, das andere, durch welche die Seele aus Gott lebe. Das heisst wohl: irdisch orientierter Mensch versus gottzugewandter Mensch. Derselbe Hugo von St. Victor sagt auch, der Mensch habe nicht nur zwei, sondern eigentlich drei Augen. Mit dem ersten Auge guckt er in die empirische Welt und nimmt die praktischen Dinge wahr. Mit dem zweiten hat er Zugang zur Welt des Verstandes und des rationalen Denkens. Erst das dritte ermöglicht ihm den Einblick in das Eigentliche, in den Willen Gottes und das, was er das jenseitige Leben nennt.
Ich halte mich da eher an aktuellere Informationen über den Menschen und foutiere mich ehrlich gesagt um die Theorien von Theologen aus dem 12. Jahrhundert. Das Zeug ist überholt und ich bin ein moderner Mensch, der sich ganz handfest als Architekt seiner eigenen Existenz weiss. Ich weiss, was ich will, habe meine Projekte und bemühe mich, sie zu realisieren. Darum geht es. Mehr liegt nicht drin, die Zeit ist nämlich knapp und je älter man wird, desto knapper wird sie. Ich muss mich beeilen. Ich bewohne meine vier Wände, die vier Wände meiner Existenz. My home is my castle. Neben mir, unter mir, über mir wird auch gewohnt. Immerzu, gewohntheitsmässig: Selbst wenn wir unterwegs sind, also ferienhalber, bleiben wir, was wir sind, gewohnheitsmässige Wohner, Existenzbewohner. Das heisst, was mich angeht, nehm ich mein Haus immer mit mir, wohin ich auch fahre. Sicher ist sicher. Da weiss ich: alles steht an seinem Platz. Es herrscht Ordnung. Die Überraschungen sind berechenbar und halten sich in Grenzen. Die Kardinalthemen meiner Existenz sind übrigens: ein paar mehr oder weniger geglückte Beziehungen, dann die Familie, dann die Arbeit, dann die Freizeit. Klar, auch die Tochter mit ihrem Uni-Abschluss, die Fussballkarriere des Sohnes, die Abenteuerreise nach Südafrika, das Engagement für das Klima oder gegen die Immigration. Ich entfalte mich im Radius des Sozialen. Da finde ich meinen Aktions- und Selbstbespiegelungsraum. Ich bin ein Innenweltbewohner. Ein Wohnungsbewohner. Meine Existenz, meine Erfolge, meine Niederlagen, meine Karriere und sogar mein allmähliches Blödwerden haben eine allgemein entzifferbare Signatur. So bin ich gottseidank für die Anderen lesbar und gehöre dazu. Bin ein anerkanntes, akzeptiertes Mitglied der universalen Haus- und Wohngemeinschaft.
Aber was hiesse es, die Wohnung zu verlassen?
Den Schlüssel im Schloss zu drehen, die Tür zu öffnen und hinauszutreten? –
Hallo! Is there anybody out there? Scheisskalt da draussen. Es zieht ziemlich. Und wo sind denn all die andern? Bei acht Milliarden Menschen auf der Erde müssten doch … Überdies herrscht eine ekelhafte Helligkeit hier draussen, richtig schwarz wird mir vor Augen, ich kann nichts erkennen in diesem brutalen Licht. Ich ruiniere mir noch meine beiden Augen! Und diese asoziale Kälte! Garantiert werd ich mir einen Schnupfen holen wenn nicht Schlimmeres! Und die Angst plötzlich! Bodenlos! Abgründig! Unerträglich! – Wo bin ich überhaupt? Was ist da los? Ist das jetzt die Hölle oder was? Dachte eigentlich, dort herrsche Glut und Hitze … Also, jedenfalls hat das hier keinen Wert, ich will zurück, heim, nach Hause. Jetzt gleich! Subito! Zurück an die Wärme. Aber – wo ist jetzt dieser verdammte Schlüssel? Hab ich Idiot jetzt tatsächlich den Schlüssel drinnen liegen lassen! Das darf doch nicht wahr sein! Was mach ich denn jetzt? Die Tür ist schnappschlossverriegelt.
«Hilfe, Hilfe! Leute, hört ihr mich! Lasst mich rein! Habt ihr denn keine Ohren? Ich wohne doch hier! Seit je. Ich bin wohnberechtigt. Ihr könnt mich doch nicht hier draussen verfrieren lassen! … Das ist gegen die Menschenrechte. Hört ihr Dumpfköpfe denn nicht?
Und wie ich zetere und panisch von aussen gegen die Tür hämmere, tippt mir plötzlich jemand von hinten gegen die Schultern.
Erschreckt wende ich mich um und stehe –
vor mir SELBST.


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