DER WURM
An und für sich hatte er es sich gut eingerichtet. Wenn er sich an die Regeln hielt, die er selbst gefunden hatte, war nichts zu befürchten. Anderseits – gegen alle Regeln – eines Morgens das: Nackt vor der Duschwanne stehend entdeckte er einen Regenwurm, der im Begriff war den flachen Rand der Wanne zu überwinden und auf seine Füsse zuzukriechen. Es handelte sich um ein circa 16 Zentimeter langes Exemplar, braunviolett mit einem milchig gefärbten Gürtelring im vorderen Bereich. Seit dem Fortgang seiner Frau vor drei Jahren war er nicht mehr so aufgewühlt. Woher kam das widerwärtige Ding? Etwa von unten, aus dem Ablauf seiner Dusche? Er wohnte im dritten Stock eines Mietshauses, wo Walli und er fünfunddreissig Jahre gemeinsam gewohnt hatten. Dass so eine Kreatur gegen zwanzig Meter Höhenunterschied aus eigener Kraft überwand, war doch nicht möglich, oder? Hatte er ein Wurmei an seiner Schuhsohle mit hochgebracht und irgendwo in seiner Wohnung abgestreift? Er verliess die Wohnung eigentlich nur noch zum Einkaufen und für die Bibliothek. Aber ein Wurmei ist ein Wurmei und ein Wurm ist ein Wurm. Und sechzehn Zentimeter sind sechzehn Zentimeter. Da gab es einfach unleugbare Unterschiede. Er war ein Mensch, der auf Hygiene hielt. Also holte er im Trab, nackt wie er war, Kehrichtschaufel und den Kehrichtbesen aus der Küche, wischte den sich nun ziemlich unbeholfen auf den Badzimmerfliesen ringelnden Widerling auf die Schaufel, kippte ihn in die Toilettenschüssel, spülte entschlossen und brachte so den ungebetenen Gast im Wasserstrudel ganz natürlich zum Verschwinden. Zweimal spülte er zur Sicherheit nach.
Er duschte gründlich, benutzte etwas reichlicher Duschgel als sonst. Zwischendurch schielte er einige Male zum Ablauf, durch den das blasentreibende Wasser gurgelnd entwich. Dann zog er ein frisches weisses Hemd und die blaue Hose an. Er machte sich Kaffee. Auf die Wurst, die er gestern gekauft hatte, verspürte er keine Lust. Eigentlich hatte er überhaupt keinen Appetit. Trotzdem toastete er einige Schnitten Weissbrot und bestrich sie mit Butter und Honig. Er sass am Tisch und kaute. Hinter ihm tickte die Wanduhr; er blickte aus dem Fenster auf den gegenüberliegenden Hang, wo eine Herde Schafe weidete. Er beobachtete das hieroglyphische Hin und Her der Schafe, der schwarzen und der weissen. Es war ein grauer Tag. Auf dem Fenstersims stand ein Topf mit Geranien. Er würde sie heute noch giessen müssen. Er räumte das Geschirr in die Küche, spülte, versorgte alles im Schrank. An der Schranktür hatte er zwei Zettel befestigt. Auf dem einen stand: «Verweile nicht in der Vergangenheit, träume nicht von der Zukunft. Konzentriere dich auf den gegenwärtigen Moment.» Der andere lautete: «Erwarte nichts. Heute. Das ist das Leben.» Er liebte solche Sprüche. Der erste war von Buddha, der zweite von Tucholsky. Man darf sich nicht immer mit der Vergangenheit beschäftigen. Was passiert ist, ist passiert. Es hat keinen Wert, sich zu hintersinnen. Er ging hinüber zu seinem Schreibtisch. Der war überschwemmt mit Zetteln, auf denen er Lebensweisheiten notiert hatte. Es war höchste Zeit, dass man sich ein bisschen Lebensweisheit zulegte. Seit Monaten notierte er sich Lebensweisheiten aus Spruchbüchern, die er aus der Bibliothek ausgeliehen hatte. Und auf einem Tablar seines Büchergestells lagerten zwei Schuhschachteln mit Hunderten von nützlichen Lebensweisheiten. Er hatte sich vorgenommen, die Zettel in eine katalogische Ordnung zu bringen, um sich über den Wirrwarr einen Überblick zu verschaffen. Er versprach sich einen praktischen Nutzen davon. Es war eine Heidenarbeit, seit Wochen bastelte er daran, aber es war eine Beschäftigung. Irgendwie musste er sich ja beschäftigen. Man konnte nicht den ganzen Tag Schafe beobachten und daran denken, was geschehen war, was nicht geschehen war und was nun geschehen sollte. Er hatte Kategorien erfunden, wie z.B. «Gegen das Unglück» oder «Gegen die innere Unruhe» oder «Gegen die Unordnung». Mehrere Systeme hatte er erprobt, trotzdem gab es immer Sprüche, die sich querstellten, sich nicht in die von ihm erdachte Ordnung einfügen wollten. Er setzte sich. Auf dem Tisch lagen die Zettel, die heute auf die ordentliche Einfächerung warteten. Er stockte. Auf einem der Zettel stand: „Jeder Mensch hat seinen Wurm.“ Wieder Goethe. Er mochte den Spruch nicht, heute weniger denn je. Würmer gehörten einfach in die Kategorie von Kakerlaken, Wanzen, Flöhen und Ratten, zum Dunkeln des Lebens, das man sich besser vom Leibe hielt. Davon hatte er genug gehabt. Jetzt galt es, sich entschieden dem Licht zuzuwenden. Er zerknüllte den Zettel mit Goethes Spruch zu einem Kügelchen und schluckte ihn herunter. Dann stand er auf und ging ins Badezimmer, um zu kontrollieren, ob der Wurm von unten in die Toilettenschüssel zurückgekehrt war. Er kontrollierte die Duschwanne, den Duschvorhang, schaute hinter die Badzimmertür. Nichts. Trotzdem blieb das ungute, irgendwie wurmige Gefühl. Er begann zu suchen. Hinter dem Topf mit der Geranie. Unter dem Esstisch, im Brotkorb, im Glas mit dem Mehl, im Gefrierfach. Er suchte ohne Methode. Eine halbe Stunde lang. Was ist denn mit mir los? dachte er erschöpft. – Schweissnass legte er sich im Schlafzimmer auf das halb aufgedeckte Bett und atmete hastig zur Stuckrosette an der Decke empor. Er grübelte. Ja, er spürte, da war wieder etwas. Da war etwas. Vermutlich wegen dieses widerlichen Wurms. Es kam ihm ein anderer Spruch in den Sinn, den er letzte Woche eingeordnet hatte: «Im schönsten Apfel sitzt der Wurm. Und ist kein Wurm drin, so wäre doch gern einer drin.» – «Siehst du, Walli, so ist das», sagte er laut vor sich hin. Seine Gedanken rasten zurück in die dunkelste aller Nächte. Was geschehen war – nun gut, es war geschehen, daran konnte man nichts ändern. So war es halt. Nur, dass Walli so ein Drama daraus gemacht hatte … Es war jetzt drei Jahre her. – Als jetzt ein scharfer Sonnenstrahl durch die Vorhänge auf den unaufgedeckten Teil ihres gemeinsamen Bettes
Lieber Andreas
Etliche Deiner Erzählungen in den Fesseln wecken Erinnerungen an die Schreibwerkstatt. Eine allerdings steht ausserhalb, und sie hat es mir besonders angetan: Tante Gosia’s Hunde. Sie handelt entlang einer Thematik, die mich schon in Purnuškés fasziniert hat, in jenem weiten Raum, wo die jüngere Geschichte den Menschen besonders übel mitgespielt hat. Und sie ist hervorragend erzählt, erinnert an Keller’sche Erzählkunst, wenn sie mit wenigen Andeutungen einen grossen, aber auch bedrückenden geschichtlichen Hintergrund einholt. So wird sie für mich zu einer Art Gravitationszentrum des Erzählbandes, von Texten, die das Leben mit einem Auge für die oft genug abstrusen und skurrilen Züge des Alltags unter die Lupe nehmen. Gegenüber der Tante nehmen sich die Blautauben doch eher alltäglich aus. Aber darum geht es wohl gerade. Auch hier, im «liberalen» Zürich, gibt es geschichtliche Spuren, weit mehr als die Erwähnung von Lydia Eschers unglücklichem Schicksal. Wenn auch Denkmäler und historische Stätten überall darauf hinweisen, und obwohl diese die Routen touristischer Exkursionen markieren, scheint es geradezu symptomatisch, dass der Blick, gefesselt von den so typischen Blautauben, hartnäckig daran vorbeizielt. Geschichte, die lebendige Grundlage unseres aktuellen Lebens, existiert neben dem Bedürfnis nach schönen Bildern und Eindrücken nicht. Und wenn die Episode von der Ratte und der Blautaube die Ambivalenz der Natur schildert, ihre Grossartigkeit und zugleich Darwin’sche Brutalität, wenden sich die Zeugen des kleinen Vorfalls nur angewidert ab und scheinen zu vergessen, dass erst die Kultur, und dass wir sie pflegen, ein einigermassen würdiges Leben ermöglicht. Na ja, immerhin hat auch Freud es verpasst, einen anderen grossen Essai zu schreiben, Das Unbehagen in der Natur – wie soll man die fehlende Aufmerksamkeit gewöhnlich Sterblicher übelnehmen? Einsam sind sie irgendwie alle, die Hauptfiguren, unfrei, obwohl sie von keiner Partei, keinem despotischen Regime unterdrückt werden. Vielmehr sind es die eigenen Fesseln, die sie einschränken; ein schwieriges Verhältnis zur eigenen Natur, die wie ein Wurm im (Sünden)- Apfel bohrt. Oder das ungelöste Verhältnis zur Familie, oder unbewältigte Begegnungen. Müssten wir uns deshalb alle einer Psychotherapie unterziehen? De Tocqueville hat nach einer Reise zur Erkundung der jungen USA behauptet, ein Resultat der Demokratie sei, dass alle Menschen ihre Aufmerksamkeit vermehrt auf sich selbst richteten. Drehen um sich selbst, statt zu versuchen, sich aus der Enge der eigenen Existenz zu befreien und sich auf Fragen konzentrieren, die das Leben ins rechte Verhältnis rücken könnten. Es gibt so viel zu entdecken. Aber um dafür frei zu sein, müssten wir wohl klarer sehen, woher wir kommen. Zweihundert Jahre ideologischen und imperialistischen Wahnsinns prägen Europas Geschichte neben allem alltäglichen Wahnsinn, der uns so oft an den wichtigen Dingen des Lebens vorbeischauen lässt. Daher spricht wohl nicht allein die durch Medien und alltägliche Hektik verkürzte Aufmerksamkeitsspanne für kleine Erzählformen, Formen, die einen Sinn für Humor und die Grösse von Details entwickeln, statt sich in grossen Entwürfen zu verheddern, die nicht mit den Überraschungen des Lebens rechnen. Und so wecken Deine Geschichten bestimmt noch viele Gedanken, wenn sie auch mit einem Problem behaftet sind, das wohl alle Autoren beunruhigt: Sie können noch so viele zündende Ideen und glänzende Passagen enthalten, wann das Feuerwerk beim Leser tatsächlich losgeht, bleibt ein Geheimnis. Mir jedenfalls gefallen sie; der Humor, die vielen schönen Einzelheiten, die Doppelbödigkeit der Wortwahl, wenn gewisse unumgängliche Personen auftauchen, oder die sperrige, langsame Ausdrucksweise derer da draussen, die Kehrtwenden jeglicher Art sehr unwahrscheinlich erscheinen lässt. Bestimmt gibt es zu diesen Geschichten noch vieles zu sagen, vielleicht auch bald wieder einmal im direkten Gespräch.
2021-03, Werni
„Fesseln“: Kommentar zu einigen Geschichten:
1. Blautauben oder das Schöne Gute Wahre
Dieser Text hat mich vom Aufbau her sehr angesprochen – der Spannungsbogen ist bis zum Schluss durchgezogen. Der Handlungsort Zürich ist gut genutzt. Als Kennerin der Stadt sind mir die gewählten Orte vertraut und dennoch hast du auch Erfundenes hinzugefügt; eine gewagte Mischung. Die Idee der Taubensafaris ist genial. Das Verhalten drei Hauptfiguren (Ehepaar und Guide) bringt das passende Konfliktpotential. Dieses ist zum einen wieder realistisch beschrieben, zum anderen auch überzeichnet. Der Fremdenführers ist eine echt skurrile Person – so selbstverliebt, dadurch wird er fast wieder sympathisch . Das ältere sich ewig streitende Ehepaar sieht man durch die gut eingefangenen Dialoge bildlich vor sich. Die zickige Frauenfigur und der leidende Ehepartner; in einer Art Opferrolle halten den Spannungsbogen .
2. Das Gedicht
Das Gedicht von Tomas Tranströmer spricht mich als Stimmungsbild sehr an und dieses Bild scheinst du für mich in deinem kurzen Text in Worte zu fassen. Für mich eine mögliche Gedichtinterpretation.
3. Zahnwahn
Alles ist nur Wahn, Einbildung, Phantasie, Halluzination, giftiges Nachtschattengewächs, Traum (Gedichtzeile). Der Protagonist der Erzählung ist doch nachts kein Werwolf oder doch? In wenigen Worten gelingt es dir diesen Wahn einzufangen. Der Text spricht mich sehr an. Das Zitat aus Eichendorfs Gedicht „Nachts“ (letzter Satz) könnte für mich auch am Schluss deines Textes stehen oder nochmals aufgegriffen werden, als der Protagonist in die Nacht aufbricht.
4. Wir hier draussen
Ein sehr ergreifender Monolog einer besorgten Mutter. Ihr Tochter Nivi muss Schreckliches erlebt haben – du belässt es bei Andeutungen, es muss nicht alles ausgesprochen werden. Auch die Sprache passt wunderbar zur Erzählerin (meist kurze Sätze und viele Gedankensprünge). Indirekt ist es auch eine sehr gelungene Naturbeschreibung des hohen Nordens. Die Einsamkeit, Sprachlosigkeit und Trauer der gewählten Figuren kriecht unter die Haut.
5. Yamaha
Eine schrecklich gruslige Geschichte – hat mich irgendwie an Bram Stocker „Die Eiserne Jungfrau“ erinnert. Vom Inhalt her etwas ganz anderes, aber als Gruselgeschichte vergleichbar.
Lieber Andreas,
schwierig ist es zu Per Meerin einen Kommentar zu verfassen. Erst muss man sich registrieren und dann einen Schlüssel
eingeben und wehe, der ist falsch: Man hat nur noch zwei Versuche ins Paradies des Kommentars zu gelangen. Dabei
wissen nur eingefleischte Per Meerin Liebhaber, dass sich auf der Website nur der Anfang der Kurzgeschichten findet
und man das Buch kaufen sollte, um das Ganze zu lesen.
Doch angesichts der Tatsache, dass die Schamanen daran sind, das Kapitol in Washington zu erobern und der erste
Vertreter sich dort bereits triumphierend gezeigt hat, ist das von eher sekundärer Bedeutung. Dank der Freundlich-
keit eines Postboten konnte ich nun alle zwanzig Meerin-Geschichten lesen. Gut gefallen haben mir die Geschichten
Cacciatora und Fox, allerdings habe ich mich immer gefragt, was der Titel „Fesseln“ beinhaltet, bis ich die vierte
Umschlagseite las, die eine befriedigende Erklärung liefert.
Als Pedant, der ich nun wirklich nicht bin, fand ich es bei der Blautaubengeschichte völlig korrekt, dass Du bei den
Württembergern „Züricher“ geschrieben hast, warum das aber auch bei „Tante Gosia’s Hunden“? Eine eher schwierige
Frage ist die, ob Du bei Aussagen der beiden Stuttgarter nicht das in Deutschland gängige ß notwendig wäre?
Doch das ist der Blickwinkel eines Lektors (der auch einige Tippfehler gefunden und vorsichtshalber, für weitere Auflagen
oder gar eine Gesamtausgabe, notiert hat). Was die literarische Leistung betrifft, so muss ich, ehrlicherweise passen:
Ich kann es nicht beurteilen. Stilistisch gesehen, als punkto Handwerk, sind die Texte gekonnt geschrieben.
Die andere Frage, die entscheidende Frage ist aber: Was haben diese Texte mit dem Andreas Meier, den ich doch etwas
zu kennen meine, zu tun? Ich arbeite an deren Lösung.
Gruss, Peter