Romane

Maki oder die Kunst des Unterrichtens

 

DR. ERWIN STEIN

Dienstag, den 17.3.2009

Liebe Irmgard!

Seit letztem Freitagabend bin ich in der Diana-Klinik zur Abklärung. Erschrick nicht, ein Grund zur Panik liegt nicht vor. Es handelt sich um eine vorübergehende, geringfügige Störung. Vom psychiatrischen Gesichtspunkt her gesehen kaum der Rede wert. Ich werde in den kommenden Monaten zwar ein paar Medikamente schlucken müssen, aber nach Aussage des mich behandelnden Arztes, Prof. Dr. Amstutz, eines profunden Bach-Kenners übrigens, darf ich Ende Woche wieder nach Hause.
Typisch! wirst du sagen, jetzt, wo ihm das Wasser wahrscheinlich zum Halse steht, kommt es ihm in den Sinn, dass er eine Schwester hat. Sonst seit Jahr und Tag nicht das leiseste Lebenszeichen! Nicht eine Silbe! Und dabei jährt sich Mamas Beerdigung im Juni bereits das dritte Mal. Und man lebt in derselben Stadt! – Lebt man? – Mal ehrlich, hast du das Gefühl zu leben, Irmgard? Ein weites Feld, ich weiss. Aber was mich angeht…es ist zum Verzweifeln, ständig keuche ich hinter etwas her, ständig hockt mir etwas im Nacken. Dabei sollte man sich ja nie so hetzen lassen, dass einem keine Zeit zum Nachdenken bleibt, scheibt schon Georg Christoph Lichtenberg in einem seiner Sudelbücher (die mir übrigens ausserordentlich lieb sind).
Gut, das ist vielleicht der Vorteil meines gegenwärtigen Aufenthaltsortes: Ich komme hier in der Diana-Klinik endlich wieder einmal zum Nachdenken – mehr als genug!
Höre, was mir zugestossen ist:

Es war letzten Freitag, also genau an meinem Geburtstag. Ich bin ja im Prinzip nicht abergläubisch, aber der dreizehnte fiel wieder einmal auf den Freitag und in der Lektion mit einer Dritten hatte ich gerade mein pädagogisches Armageddon erlebt. Die Goethe-Stunde zur Iphigenie war mir komplett aus dem Ruder gelaufen. Grauenhaft! So etwas ist mir schon lange nicht mehr passiert.
Es dämmerte schon…




				
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1 Kommentar zu „Romane“

  1. Zu Stockers Stimme
    Er ist noch einmal davongekommen. Armand Stocker, der sich mit Drax nicht anfreunden will, mit einem Unternehmen, das die gewachsene Talschaft vollständig umbaut. Mit der Logik von Fortschritt und Perfektion, die einem totalitären Drall erliegt.
    Siebzehn Jahre ist es her, seit Armands Freund und Blutsbruder Soroczy, mit dem er das «Indianerland» durchstreift hat, spurlos verschwunden ist. Der Verdacht liegt nah, dass dieses Verschwinden nicht gewaltfrei erfolgte. Seither kreisen Stockers Gedanken um das Ereignis, zwischen üblen Ahnungen und einer Sehnsucht nach dem alten, unberührten Leben hin- und hergerissen. Auch zwischen der Angst vor Schnorf und dessen Gehilfen, die sich Drax verschrieben haben, und Erinnerungen an eine Freundschaft, die ihm Kraft und Eigenleben brachte.
    Wenn Drax durch demokratischen Beschluss im Tal eingeführt wurde, so entwickeln seine Maschinen eine Dynamik, welche die Leute in ihren Bann zieht, alle Lebensbereiche erfasst und nichts mehr duldet, was sich dem Heilsversprechen nicht fügt. So wird denn Stocker von Schnorf zum Tolgg gestempelt, zum Nichts, zum hoffnungslos Rückständigen. Eine Hatz beginnt im Namen eines von Slogans getriebenen Fortschritts, aus der Armand keinen Ausweg mehr sieht. Eine schrille Geschichte, so der erste Eindruck, mit Elementen, die ich schlecht einordnen kann.
    Beim zweiten, langsamen Lesen klingen die reicheren Untertöne an: Stimmen aus der Tiefe, die wie ein griechischer Chor die Erzählung begleiten. Stockers Stimme, dem bis zum Wiedereingliederungsprogramm sieben Nächte bleiben, um Mummelleuten die finstere Geschichte zu erzählen, von der er sich zu erholen sucht. Worte eines Zerschlagenen. Die Poesie einer eigenwilligen Prosa kündet sich an: «Ich, Grenzgänger entlang der Schamlinie, / Veteran auf den Schmuggelpfaden des Entsetzens, / konvertierter Indianer…»
    Da spricht ein Getroffener aus einer anderen Welt. Spricht von Scham, die es nicht mehr zu geben scheint. Dass das Leben im Fortschrittswahn nicht besser gelingt als zuvor. Und von der Zauneidechse, einem Talisman, worum ein Streit entbrennt, als ob der materielle Besitz garantierte, was in Gedanken längst erloschen ist. Zwischen der penetranten, rasend sich entwickelnden Gegenwart verstreut die Klänge einer stilleren Vielfalt.
    Ich mag das Buch und geniesse es nach der zweiten Lektüre, darin zu blättern, um da und dort nach Perlen zu tauchen.
    Werner Neck, 30.10.2023

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