Europas andere Mitte
Illnau, 18. Juli 2016
«Warst du schon mal im Mittelpunkt der Schweiz?», fragt mich Fritz, der weiss, wie man als Pensionierter seine Zeit totschlägt. Wir sitzen in seinem Garten im Schatten unter dem rotweiss gestreiften Sonnenschirm und trinken Kaffee. Er schlägt mir einen Ausflug vor.
«Auf die Älggialp im Kanton Obwalden, 1650 Meter ü. Meer: Wiesen, Weiden, prima Lebkuchen im Berggasthaus Älggi.» – Als er merkt, dass ich nicht anbeisse, ködert er nach: «…und da steht ein Stein mit den Namen aller, die zum Schweizer des Jahres gewählt wurden, Roger Federer und Beat Richner natürlich und Eveline Widmer-Schlumpf – und Polo Hofer letztes Jahr …»
Prominenz hin oder her, Ausflüge langweilen mich, lieber will ich eine Reise machen, und zwar keine zufällige, sondern eine, für die es Zeit ist, eine, die mein Herz berührt. Fritz’ Idee mit dem Mittelpunkt ist gut, Mittelpunkt spricht mich an, eine Reise in den Mittelpunkt soll es auf jeden Fall werden, es drängt mich zum Mittelpunkt – schon als Kompensation dafür, dass ich jetzt gegen die gesellschaftliche Peripherie gerückt bin.
Doch: Mittelpunkt wovon? –
Da krächzt vom Dach des Nachbarhauses eine Krähe herunter. Sie hockt zuoberst auf dem Giebel. – – – !
Aha, Mitte Europas! Mach dich auf zur Mitte Europas!
Was habe ich bei Elio, meinem Coiffeur seit Urzeiten, in einer der aufliegenden Zeitschriften gelesen? Das geographische Zentrum Europas soll einzig und allein bei der litauischen Hauptstadt Vilnius liegen. Ich google auf meinem Handy nach: Genau, nur ein paar Kilometer nördlich von Vilnius, bei einem Kaff namens Purnušk?s. Koordinaten 54° 54 ’ 0’’ Nord. 25° 19’ 0’’ Ost. Voilà!
«Da muss ich hin», sag ich, wie von einer Eingebung ergriffen. «Dahin fahr ich mit dem Fahrrad.»
Fritz hört auf, mit dem Löffel in seiner Kaffeetasse herumzurühren: «Litauen? Bis dorthin sind es bestimmt 2000 km. Übertreib’s mal nicht! Übertreiben ist gar nicht gesund, Per, in unserem Alter soll man’s ruhig nehmen.»
Er hängt am Kleinräumigen, am Älggialper Lebkuchen und am Gedenkstein mit den Schweizern des Jahres.
Mich beflügelt die Europa-Idee. Mein Lebtag war ich Europäer und noch nie im Zentrum!
«Da oben ist was» sag ich zu Fritz, «ich spür’s, ich kann es zwar noch nicht fassen, aber ich hab da ein dunkles Gefühl.»
«So so, ein dunkles Gefühl! Na dann…» – Fritz runzelt die Stirn.
«Du bist doch auch Europäer», sag ich.
«Klar», sagt er, «wieso denn nicht?»
«Und was heisst das?»
Er zuckt mit den Schultern: «Also primär bin ich Schweizer, mein Lieber, der Rest ist mir ehrlich gesagt Beigemüse.»
«Heiliger Simplicius», sag ich, «so funktioniert das nicht. Es muss doch einen wesentlichen Unterschied machen, ob man Europäer ist oder nicht. Da kannst du dich doch nicht auf den Schweizer hinausreden. Da geht es um ein entscheidendes Merkmal! Um eine Quintessenz! – Also ich fahr jetzt mal hoch ins Zentrum und versuch das zu klären. Und zwar an Ort und Stelle.»
Fritz zeigt mir einen Vogel: «Bei dir piept’s ein bisschen, Per, wenn du mich fragst. Kein Wunder, die Pensionierung bringt dich durcheinander. Aber egal, fahr halt, wenn’s sein muss, Reisende soll man nicht aufhalten. Und grüss mir den Stier der Europa, falls er da oben weidet. Aber pass auf, dass er dich nicht auf die Hörner nimmt!» …
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Zu Stockers Stimme
Er ist noch einmal davongekommen. Armand Stocker, der sich mit Drax nicht anfreunden will, mit einem Unternehmen, das die gewachsene Talschaft vollständig umbaut. Mit der Logik von Fortschritt und Perfektion, die einem totalitären Drall erliegt.
Siebzehn Jahre ist es her, seit Armands Freund und Blutsbruder Soroczy, mit dem er das «Indianerland» durchstreift hat, spurlos verschwunden ist. Der Verdacht liegt nah, dass dieses Verschwinden nicht gewaltfrei erfolgte. Seither kreisen Stockers Gedanken um das Ereignis, zwischen üblen Ahnungen und einer Sehnsucht nach dem alten, unberührten Leben hin- und hergerissen. Auch zwischen der Angst vor Schnorf und dessen Gehilfen, die sich Drax verschrieben haben, und Erinnerungen an eine Freundschaft, die ihm Kraft und Eigenleben brachte.
Wenn Drax durch demokratischen Beschluss im Tal eingeführt wurde, so entwickeln seine Maschinen eine Dynamik, welche die Leute in ihren Bann zieht, alle Lebensbereiche erfasst und nichts mehr duldet, was sich dem Heilsversprechen nicht fügt. So wird denn Stocker von Schnorf zum Tolgg gestempelt, zum Nichts, zum hoffnungslos Rückständigen. Eine Hatz beginnt im Namen eines von Slogans getriebenen Fortschritts, aus der Armand keinen Ausweg mehr sieht. Eine schrille Geschichte, so der erste Eindruck, mit Elementen, die ich schlecht einordnen kann.
Beim zweiten, langsamen Lesen klingen die reicheren Untertöne an: Stimmen aus der Tiefe, die wie ein griechischer Chor die Erzählung begleiten. Stockers Stimme, dem bis zum Wiedereingliederungsprogramm sieben Nächte bleiben, um Mummelleuten die finstere Geschichte zu erzählen, von der er sich zu erholen sucht. Worte eines Zerschlagenen. Die Poesie einer eigenwilligen Prosa kündet sich an: «Ich, Grenzgänger entlang der Schamlinie, / Veteran auf den Schmuggelpfaden des Entsetzens, / konvertierter Indianer…»
Da spricht ein Getroffener aus einer anderen Welt. Spricht von Scham, die es nicht mehr zu geben scheint. Dass das Leben im Fortschrittswahn nicht besser gelingt als zuvor. Und von der Zauneidechse, einem Talisman, worum ein Streit entbrennt, als ob der materielle Besitz garantierte, was in Gedanken längst erloschen ist. Zwischen der penetranten, rasend sich entwickelnden Gegenwart verstreut die Klänge einer stilleren Vielfalt.
Ich mag das Buch und geniesse es nach der zweiten Lektüre, darin zu blättern, um da und dort nach Perlen zu tauchen.
Werner Neck, 30.10.2023