Vita contemplativa (Essay)

Es gäbe ja immer wahnsinnig viel zu tun. Trotzdem: sitzen ist schon mal gut. Vielleicht sogar liegen?  – Sich jedenfalls mal ausser Betrieb setzen. Abkoppeln. Ich bin ja nicht nur Rädchen im Getriebe. Nicht nur Leistungsträger, Arbeitstier, Roboter.  – Aber nein, halt, jetzt nicht gleich ab auf die Malediven, Seychellen, Kanaren, Balearen!  – Einfach hierbleiben, sitzenbleiben, liegenbleiben. Und Handy aus, Compi aus, Ohrstöpsel raus, nimm dich vom Netz! Mach mal den Schnitt, die Schere liegt ja bereit. – Wo denn schon wieder? Möglich, dass du sie verlegt hast, dann such mal in der untersten Schublade, du weisst doch, du hast eine, irgendwo muss sie ja sein …

Der Schnitt, der mich losschneidet von … ich kann nicht, will nicht, ich will doch mit dabei sein, am liebsten mittendrin, mich im Blick der andern wiederfinden und jemand sein; ihre Anerkennung ist die Luft, in der ich gedeihe, ohne sie fühle ich mich in die Wüste meiner selbst ausgesetzt, von allem abgeschnitten, was mir Sicherheit gibt, ohne die andern weiss ich gar nicht, was ich da soll, sie sind der sicherste Schutz vor dem Mir-ausgesetzt-Sein …

Und doch – ich kehre dem Getriebe den Rücken zu und gehe hinaus – zu mir selbst. – Da steht ein Haus. Es hat einen Namen: Es heisst «Haus zur Philosophie». Es hat offene Fenster zum Fluss des Lebens hin. Ich bin der Architekt des Hauses, und ich habe es gebaut, nahe am Fluss des Lebens, der auch der Fluss meines Lebens ist. Ich habe jahrelang daran gebaut, es umgebaut, Wände eingezogen, aufgestockt, ganze Flügel abgebrochen und neu angelegt. Es ist vorgekommen, dass der Fluss über seine Ufer getreten ist und mein Haus unter Wasser gesetzt hat. Zum Glück war die Flut bis jetzt noch nie zu schlimm, dass es vom Fluss mitgerissen wurde. – Im Ganzen ist es ein bescheidenes, relativ kleines Haus. Aber nein! das stimmt nicht, es ist ein geräumiges Haus geworden.  Und es ist nie fertig. Hier wohne ich. Hier bin ich zuhause.

Der Eingang des Hauses liegt auf der dem Fluss abgewandten Seite an einer ziemlich verkehrsreichen Strasse, die direkt ins Zentrum der Stadt führt. Wie oft bin ich sie gegangen! Man kann vielleicht sagen, ich wohne an privilegierter Lage – so mit Blick auf den Fluss. Tatsächlich gibt es viele Häuser in der Stadt, vor allem in den in den letzten Jahrzehnten heraufgezogenen Quartieren, von wo aus der Blick auf den Fluss völlig verbaut ist. Aber soviel ich weiss, stört das nicht. Man wohnt dafür näher an der Stadtmitte mit all ihren Geschäften. Und wenn man zum Beispiel einen Doktor braucht oder zum Psychologen muss, ist es von da auch weniger weit.

In meinem Haus überwiegt die Ruhe, die Musse, die kontemplative Untätigkeit, auch wenn – was oft vorkommt – Besuch von aussen da ist. Dann sind wir kooperativ untätig. –  Philosophie hat mich schon in jungen Jahren interessiert,

Die erste Botschaft der Philosophie, die ich vernommen habe, war die der Freiheit. – Die Ketten waren glaub ich schon immer da: die Erwartungen der anderen, der Zwang zur Dauer-Kommunikation, zur geistigen Fügsamkeit, der alltägliche Erledigungsdruck – oft bis zur Besinnungslosigkeit.  Doch es gibt mein Haus am Fluss, das heisst, die Möglichkeit, auszuscheren, sich zurückzuziehen, wegzugehen, wenn die Anbindung so eng wird, dass ich nicht mehr atmen kann. Doch was ist das für eine Gefangenschaft, aus der man so leicht entkommt? – So leicht ist es allerdings gar nicht, denn die Angst, die Scham, nicht bedingungslos dazuzugehören, nicht «einfach» mit dabei sein zu können, ist mächtig. Eine Art Scham über die eigene Inkompatibilität, die begrenzte Verwendbarkeit und Solidarität mit dem Faktischen, dazu kommt Irritation über die Unlesbarkeit der eigenen Person, die sich den Kategorien der gängigen Erschliessung nicht fügen will. – Da öffnet die Philosophie den Raum der Kontemplation, in dem es mir gestattet ist, die mühselige Entzifferungsarbeit ohne Anpassungsdruck in Angriff zu nehmen: die Entzifferung des Selbst: wer bin ich, woher komme ich, wohin gehe ich? Und die Entzifferung der Welt, in die ich hineingeworfen bin. Nicht allein, sondern im Gespräch und in stiller Auseinandersetzung mit anderen Geistern, die gerne in meinem Haus am Fluss zu Gast sind, darunter ungemein starke Geister, die vorbildlich darüber nachgedacht haben, was es mit dem menschlichen Leben auf sich hat und dem Wissen und dem vermeintlichen Wissen und dem Glauben und woran man sich in seinem Tun am besten orientiert … Manche dieser Geister sitzen auch gerne am offenen Fenster und schauen mit mir auf den weit ziehenden Fluss hinaus – und diese sind mir die liebsten. –

Die zweite Botschaft der Philosophie ist die der Sprache. Philosophie beginnt und endet an der Grenze zum Unsagbaren. Philosophie hört auf die Laute einer unbekannten Sprache. Oft sind ihre Übersetzungen auch kaum verständlich. Aber im Gegensatz zur Mystik beharrt sie auf dem Sagen. Sie will begreifen, auch wenn sie scheitert. Die Alltagssprache kennt diese Unruhe, dieses Ringen gegen das eigene Verschwinden nicht. Da sind die Wörter wie friedlich grasende Schafe in der behüteten Herde. Philosophische Begriffe kommen in der Alltagssprache manchmal daher, als wären sie mit dem Aussatz behaftet. Sie sind wie die Vorderseite einer Krankheit, deren Hinterseite die Gesundheit ist. Ihre Sprache ist wie der Schmerz, aber der Schmerz ist stumm, die Sprache gibt preis. Beiden gemeinsam ist die Nähe zum intimen Erleben. Sprache kann wie der Blitz sein, der die Nacht erleuchtet. Sie beginnt tief in der Natur, sie ist wie das Licht in ihr, sie stiftet die Verständigung zwischen den Wesen aus der Stille. Sprache ist der Schlüssel zur Welt. Sie ist viel grösser als ich, aber die Grenzen meiner Sprache sind – wie Wittgenstein sagt – die Grenzen meiner Welt. Es gibt alte Sprachen, ausgestorbene und beinahe ausgestorbene, es gibt vergessene und verschollene Sprachen und es gibt Derivate dieser alten Sprachen, die neuen Sprachen und es gibt die Informations- und Wissenschaftssprachen, die viel von der ursprünglichen Sprachkraft und der Berührung zum Leben verloren haben.

Die dritte Botschaft der Philosophie ist für mich das Glück. Das Unglück habe ich früh kennen gelernt, obwohl ich, was das Materielle betrifft, ein verwöhntes Kind war. Hunger z.B. habe ich nie kennen gelernt. Und Krieg nur ganz aus der Ferne. Vielleicht ist es beschämend, in so privilegierten Verhältnissen aufzuwachsen und dennoch unglücklich zu sein. Davon, dass mir als Mensch das Glück zusteht, bin ich überzeugt. Es gibt keinerlei Notwendigkeit im Unglück zu verharren. Das ist der Antrieb, sich den Bedingungen des Unglücks zuzuwenden. Die Fundamente des Unglücks sind oft tief vergraben, so dass seine Gestalt, soweit sie am Licht liegt, wie eine unverrückbare Einrichtung aussieht. Oft muss man tief graben, bevor sich etwas bewegen lässt. In dieser Hinsicht habe ich der Philosophie mehr zugetraut als der Psychologie, die sich oft ins gesellschaftlich Gegebene fügt und da Reparaturaufgaben übernimmt. Die Philosophie hilft Hindernisse abbauen, die dem Glück im Wege stehen, das Glück selber kommt aber von ganz anderswo her. In diesem Sinn hat Philosophie mit dem Unglück mehr zu tun als mit dem Glück. Aber sie weiss intuitiv vom Glück und schärft das Sensorium gegen das Unglück. Das Glück ist natürlich, viel Unglück kommt dagegen durch künstliche Verstellungen, Hindernisse, Verbauungen zustande, die es zu erkennen und vermeiden gälte.  Dabei besteht ein Unterschied zwischen eigentlichem Glück und uneigentlichem. Uneigentliches Glück ist bloss Ablenkung, Zerstreuung, Unterhaltung etc. Sie werden industriell produziert und massenhaft konsumiert, um das eigentliche Unglück notdürftig zu überdecken. Das kleine Unglück ist persönlich, das grosse Unglück ist gesellschaftlich. Das kleine und das grosse Unglück sind meistens mit einander verbunden, so dass das kleine vom grossen abhängt, ein bisschen auch umgekehrt.

Das grosse Unglück ist – gegen den statistischen Anschein, dass es uns besser gehe als je zuvor – heute gigantisch. Es trägt die Fratze der Maschine. Gegen sie ist kein Ankommen. Sie zermalmt alles, was sich ihr in den Weg stellt. Was noch (wie lange noch?) möglich ist, ist die Flucht, das Ausweichen, der mehr oder weniger geordnete Rückzug. Im Zentrum und in sieben, immer weiteren Kreisen darum herum herrscht die Maschine. Da sind unheimliche Verwandlungen des Menschlichen im Gange. Der Sieg der Maschine ist eine ausgemachte Sache. Sie ist nicht bloss ein funktionierendes Ding, sondern der voranschreitende Ungeist selbst. An der Peripherie, gibt es da und dort noch Freiräume. Die Philosophie, insofern sie sich mit dem Leben verbündet und ihm (und nicht der Maschine) Treue geschworen hat, ist mir Führerin zum Glück. Heute ist sie vor allem Fluchthelferin. Sie verhilft zur Flucht einen Ort, der nicht durch das und die Maschinenwesen okkupiert ist: mein Haus mit den offenen Fenstern zum Fluss des Lebens hin …

Das ist alles gleichnishafte Rede. Aber die ist ausserhalb des Hauses manchmal sinnvoll.

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